zum Hauptinhalt
Innerhalb des Kinderschutzbundes gab es Fälle von Missbrauch.

© dpa

Aufklärung beim Kinderschutzbund: Schmerzhafte Erinnerungen

Der Kinderschutzbund versteht sich als Lobbyist für Kinder. Doch in den 80ern gab es Kontakte zu Pädophilenorganisationen. Ein Gutachten klärt auf.

Ein gutes Jahr lang hat Katharina Trittel in Archiven geforscht. Vierzig Meter Akten ist die Wissenschaftlerin mit ihren Kollegen vom Göttinger Institut für Demokratieforschung durchgegangen und hat Zeitzeugen befragt. Um am Ende beantworten zu können, welche Beziehungen der Deutsche Kinderschutzbund (DKSB) in den 80er Jahren zu Pädophilenorganisationen hatte. Eine heikle Frage für einen Verein, der sich als Lobby für Kinder bezeichnet.

Anstoß für die Untersuchung war die Pädophiliedebatte bei den Grünen vor zwei Jahren. Als in diesem Zusammenhang auch der Deutsche Kinderschutzbund in die Kritik geriet, beauftragte dieser das Göttinger Institut für Demokratieforschung, das unter Franz Walter auch die Verstrickung der Grünen mit der Pädophilenlobby erforscht hatte.

Zwei wichtige Ordner sind verschwunden

Die Recherche war nicht einfach: Zwar war die Bundesgeschäftsstelle kooperativ, wie im Abschlussbericht steht, aber den Archiven in den Orts- und Landesverbänden fehlte es an Systematik. Oft fanden die Wissenschaftler nur lose Zettel, Protokolle, zwei komplette Ordner fehlten. Ausgerechnet die Unterlagen zum Ausschuss „Gewalt gegen Kinder“ und zur Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität (AHS) sollen 2008 beim Umzug von Hannover nach Berlin verschwunden sein. Jener Verein, der sich in den 80er Jahren offen für die Legalisierung von Sex zwischen Kindern und Erwachsenen einsetzte. Sie wären von „größtem Wert“ gewesen, sagt Trittel. Ein seltsamer Zufall, den niemand erklären kann.

Weil der Quellenbestand so lückenhaft war, wurden Interviews mit Zeitzeugen umso wichtiger. Manche Gesprächspartner waren aber nicht zu erreichen, andere bereits verstorben. Zwei wichtige Funktionsträger verweigerten die Aussage, bei den Ortsverbänden reagierten nur zehn Prozent auf die Anfrage des Instituts.

Im Mittelpunkt steht Walter Bärsch

In ihrem Gutachten kommen die Forscher zum Schluss, dass Pädophilenorganisationen den Kinderschutzbund in den 80ern zwar nicht unterwandert haben, wie es in der Forschungsfrage heißt. Es gab aber durchaus Strukturen und Positionen in Beschlüssen, die pädophilenfreundlich waren oder zumindest so ausgelegt werden konnten. Damals wurde in Teilen der Wissenschaft und Gesellschaft debattiert, das Sexualstrafrecht zu lockern. Sexuelle Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen sollten nicht per se verboten werden.

Im Mittelpunkt der Vorwürfe gegen den Kinderschutzbund stand Walter Bärsch. Der mittlerweile Verstorbene war von 1981 bis 1991 Vorsitzender der Organisation. Es gibt Äußerungen von Bärsch, in denen er eine mögliche Straffreiheit von Pädophilie infrage stellt. So sagte er 1985 in einem Interview, Kinder würden so zum „reinen Lustobjekt“, zu „Strichjungen“. Andererseits trat er 1989 in das Kuratorium der AHS ein. Von pädophilenfreundlichen Tendenzen will Bärsch in dem Kuratorium nichts mitbekommen haben. Auf Kritik habe er versichert, kein Anhänger der Bewegung zu sein, heißt es in dem Gutachten.

1992 sprach er sich in einem offenen Brief allerdings gegen die Vorverurteilung des AHS-Vorsitzenden Werner Wendig aus, der wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt war – und später in neun Fällen schuldig gesprochen wurde. Ortsverbände des Kinderschutzbunds distanzierten sich von der AHS und der Mitgliedschaft Bärschs. Warum er 1994 ausgetreten ist, wie er zu der Pädophilenlobby stand und ob diese seine Mitgliedschaft wiederum instrumentalisierte, bleibt ungeklärt.

Forscher sind auch auf Missbrauchsfälle gestoßen

Innerhalb des Kinderschutzbundes gab es Fälle von Missbrauch.
Innerhalb des Kinderschutzbundes gab es Fälle von Missbrauch.

© dpa

Klar ist, dass es problematische Veröffentlichungen gab. In der Verbandszeitung „Kinderschutz aktuell“ warben mehrere Autoren 1985 unter dem Titel „Spannungsfeld Sexualität“ offen für „Liebe mit Kindern“. Als zweifelhaft beschreibt das Gutachten außerdem das Prinzip „Hilfe statt Strafe“, das der DKSB 1982 etablierte. Missbrauchende Eltern sollten nicht kriminalisiert werden, man müsse ihnen helfen. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass sich die Orts- und Landesverbände nicht nur über Mitgliedsbeiträge und Spenden finanzieren, sondern auch über Bußgelder.

Wenn Richter einen Prozess einstellen und eine Geldauflage verhängen, können sie entscheiden, ob das Geld in die Staatskasse fließt oder an eine gemeinnützige Organisation überwiesen wird. In den 80er Jahren, als das „Hilfe statt Strafe“-Prinzip galt, waren außergerichtliche Einigungen allein wegen dieser Leitidee beliebt. Auch heute noch sind Ortsverbände von den Geldern abhängig.

Debatte schien nicht notwendig zu sein

Zu den wenigen, die schon früh den Kinderschutzbund kritisierten, gehörte die Zeitschrift „Emma“. Schon 1993 schrieb sie über Bärsch und seine Vernetzungen. Der Ortsverein Münster wollte daraufhin einen Antrag einreichen, damit sich der Bundesvorstand mit den Vorwürfen auseinandersetzt. Damals war der heutige Verbandspräsident Heinz Hilgers schon im Amt. Laut einem Gesprächprotokoll des OV Münster, das im Gutachten genannt wird, soll er von einer Stellungnahme Bärschs abgeraten haben. Das Ganze solle nicht überbewertet werden, hieß es. Der Antrag wurde dennoch gestellt.

Weil Bärsch bei der nächsten Mitgliederversammlung bereits aus der AHS ausgetreten war, wurde eine Debatte letztlich nicht mehr als notwendig angesehen. 2013 sagte Hilgers, er habe von der Mitgliedschaft seines Vorgängers in der AHS „keine Ahnung“ gehabt.

Keine Einzelfälle von Missbrauch

Die Forscher sind auch auf Missbrauchsfälle gestoßen. „Unser Eindruck war, dass das keine Einzelfälle waren“, sagt Trittel. Eine quantitative Auswertung, die sich der Kinderschutzbund durchaus gewünscht hätte, war wegen der schlechten Dokumentation nicht möglich. Die Unverbundenheit zwischen dem Bundesverband und den Ortsverbänden habe dazu geführt, dass Probleme intern, vor Ort, behandelt worden seien. Es gab kein Beschwerdemanagement und keine Kontrollmechanismen. Täter nutzten Loyalitäten aus, das Thema „sexuelle Gewalt“ war oft ein Tabu. Weil der Verein nicht professionell genug agierte, wurden angebliche Therapiesitzungen für Kinder zum Beispiel in Privatwohnungen abgehalten.

Schon lange setzt sich der DKSB für den Schutz von Kindern ein. Weil es aber auch in der eigenen Einrichtung Fälle von sexuellem Missbrauch gab, wurden auf der Mitgliederversammlung im Mai zwei neue interne Beschlüsse verabschiedet. Maßnahmen sind strengere Auswahlgespräche, mehr Fort- und Weiterbildungen. Erweiterte Führungszeugnisse müssen regelmäßig wieder vorgelegt werden, es sind unabhängige Beschwerdestellen für Mädchen und Jungen geplant. Auf Landesebene sollen sich Mitarbeiter an Mentoren wenden können, wenn sie einen Verdacht haben. Außerdem hat der Kinderschutzbund eine Hotline eingerichtet, bei der Betroffene anrufen können. Bisher hat sich eine Person gemeldet. In diesem konkreten Fall ist eine Entschädigung bezahlt worden, wie Vizepräsidentin Sabine Andresen mitteilt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false