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Bürgerbewegung Pulse of Europe: Europa ist noch lange nicht gerettet

Vor einem Jahr mobilisierte Pulse of Europe Tausende Demonstranten. Die Bewegung hält Europa noch immer für gefährdet – und entwickelt deshalb neue Ideen.

Macht bloß weiter, bekommt Moritz Pohle in diesen Tagen immer wieder zu hören. Im Januar 2017 organisierte der Anwalt aus Freiburg zum ersten Mal eine Pulse-of-Europe-Kundgebung in seiner Heimatstadt, um Stimmung für Europa zu machen. Zwischenzeitlich kamen sonntags bis zu 1600 Leute auf den Augustinerplatz, um mit ihm für die europäische Einigung zu trommeln. Doch mittlerweile ist es mühsamer geworden, die Leute regelmäßig zum Demonstrieren zu bewegen.

Vor einem Jahr sah das noch ganz anders aus. Die proeuropäische Bürgerbewegung sorgte dafür, dass Sonntag für Sonntag Zehntausende Menschen in Deutschland auf die Straße gingen. Auch in Berlin kamen damals 6000 Demonstranten auf den Gendarmenmarkt, heute ist es noch ein harter Kern von etwa 300. Nach den Wahlen in den Niederlanden und in Frankreich im Frühjahr 2017 seien die Teilnehmerzahlen gesunken, sagt Silvan Wagenknecht. Der 19-Jährige macht eine Ausbildung zum Mediengestalter, in seiner Freizeit organisiert er die Veranstaltungen von Pulse of Europe in Berlin. „Ohne die akute Gefahr, dass eine französische Präsidentin Marine Le Pen gewählt werden könnte, lassen sich im Moment nicht mehr so viele Menschen mobilisieren“, sagt er.

Die Idee zu Pulse of Europe hatte das Ehepaar Sabine und Daniel Röder, die nach Brexit und US-Wahl der europaskeptischen Stimmung etwas entgegensetzen wollten. In Frankfurt am Main gründeten sie zum Jahreswechsel 2017 einen Verein und starteten gleichzeitig mit Freiburg wöchentliche Kundgebungen für Europa, sonntags um 14 Uhr. „Der europäische Pulsschlag muss wieder spürbar werden“, heißt es im Manifest der Bewegung. Sie trafen damit einen Nerv: Innerhalb kürzester Zeit breitete sich Pulse of Europe nicht nur in Deutschland an 150 Standorten aus, sondern auch in 20 anderen EU-Staaten.

Die Bürgerbewegung ist professioneller geworden

Doch wie geht es nun weiter? In Frankfurt hat Pulse of Europe mittlerweile eine eigene Geschäftsstelle aufgebaut. Zwei fest angestellte Mitarbeiter kümmern sich unter anderem darum, das Netzwerk der Bürgerbewegung zu verwalten, Kampagnen zu organisieren und Spendengelder einzutreiben. Seit Anfang diesen Jahres sind die verschiedenen Standorte außerdem über ein Intranet vernetzt, was die Zusammenarbeit deutlich erleichtert. „Wir haben die Pause im Winter genutzt, um uns zu professionalisieren“, sagt Stephanie Hartung, eine der Mitgründerinnen. „Nach dem explosionsartigen Wachstum im letzten Jahr haben wir nun eine Phase der Konsolidierung hinter uns.“

Kundgebungen nicht mehr im Wochentakt

Seit August vergangenen Jahres finden die Kundgebungen nicht mehr wöchentlich statt, sondern in der Regel jeden ersten Sonntag im Monat. „Der Rhythmus war weder den Organisatoren zumutbar noch den Menschen, die bereit waren, mit uns zu demonstrieren“, sagt Hartung. Gerade an den kleineren Standorten seien die Organisatoren am Ende des vergangenen Jahres „fix und fertig“ gewesen. „Die mussten erst mal durchatmen“, sagt Hartung.

So ging es auch dem Pulse-of-Europe-Team in Dresden. „Wir haben unsere Kundgebungen von Anfang an sehr aufwendig organisiert – mit Lkw, Technik und Band. Das konnten wir auf Dauer nicht stemmen, auch finanziell“, sagt Carola Vulpius. Im Laufe des Jahres sei auch das Organisationsteam geschrumpft. „Über den Herbst und Winter mussten wir alle erst einmal Luft holen“, sagt die Richterin. In Dresden will Pulse of Europe nun nur noch zu bestimmten Anlässen auf die Straße gehen, wie zuletzt vor der Italien-Wahl. Ganz aufhören sollen die Kundgebungen aber nicht. „Natürlich müssen wir im Stadtbild sichtbar bleiben und die Fahnen für Europa schwenken“, sagt Vulpius. Sie treffe immer noch auf Leute, die noch nichts von der Bewegung gehört hätten.

"Wir werden inhaltlich konkreter"

Aber die Organisatoren setzen auch auf andere Formate. Am 8. Mai lädt Pulse of Europe in Dresden zu einer Diskussion mit einem Autor ein, der über Europa geschrieben hat. „Am offenen Mikrofon auf den Plätzen war ja nie richtig Rede und Widerrede möglich“, sagt Vulpius. „So können wir die inhaltliche Debatte vertiefen.“ Auch in Berlin finden mittlerweile monatliche Europa-Salons statt. „Jetzt geht es nicht mehr nur darum, für Europa zu sein. Wir werden inhaltlich konkreter“, sagt Mitorganisator Peter Funk.

Das war auch einer der Kritikpunkte, den sich Pulse of Europe im vergangenen Jahr immer wieder anhören musste. Es sei ja schön und gut, dass die Bürgerbewegung Emotionen für Europa wecken wolle, hieß es. Aber wofür sie denn inhaltlich stehe – jenseits der zehn Thesen, die eine Art Grundgerüst bilden? Stephanie Hartung kennt diese Vorwürfe. Für den Anfang sei der Ansatz genau richtig gewesen, emotionale Bilder für Europa zu produzieren, entgegnet sie. „Jetzt sind wir in einer neuen Phase. Wir haben nicht nur die inhaltliche Debatte vertieft, sondern wir entwickeln auch neue Modelle für mehr Bürgerbeteiligung in Europa.“

Hausparlamente sollen über Europa diskutieren

Schon bald wollen die Organisatoren von Pulse of Europe ihre Pläne einer breiteren Öffentlichkeit vorstellen. Am 10. Juni laden sie zu einem europäischen Festakt in der Frankfurter Paulskirche ein. Dort soll auch der Startschuss gegeben werden für die „Hausparlamente“, wie der Arbeitstitel heißt. „Wir wollen die Politik in die Wohnzimmer bringen“, sagt Hartung.

Die Idee stammt vom Berliner Beteiligungsforscher Raban Fuhrmann, mit dem Pulse of Europe zusammenarbeitet. Er schlägt folgendes Verfahren vor: Das Europaparlament könnte Bürger beauftragen, zu aktuellen, umstrittenen Gesetzgebungsverfahren ein Votum abzugeben. Die Gastgeber der Hausparlamente laden fünf bis acht Bekannte zu sich nach Hause ein. Sie erhalten vorher Arbeitsunterlagen, die sie zusammen durcharbeiten und bewerten. Die Ergebnisse der Hausparlamente werden anschließend zusammengeführt und Europaparlamentariern zur Verfügung gestellt. Diese dürfen die Bürgerempfehlung nicht ignorieren, sondern müssen zumindest Stellung nehmen, warum sie welche Entscheidung getroffen haben.

Dadurch könne im Idealfall ein permanenter Dialog zwischen Bürgern und Europaparlamentariern entstehen, sagt Fuhrmann. „Ich glaube, dass diese Sofa-Parlamente die Kluft zwischen Bürgern und Brüssel beziehungsweise Straßburg deutlich schließen könnten.“ Natürlich sei vielen Menschen bewusst, dass ihre Empfehlungen nicht unbedingt eins zu eins übernommen würden. „Mindestens genauso wichtig ist aber das Gefühl, gehört zu werden und Antwort zu bekommen“, sagt er. Bisher gibt es erste Kontakte zu Europaabgeordneten, die bei dem Projekt mitmachen könnten. Nach einem ersten Durchlauf in Deutschland könnte die Idee auch in anderen Ländern getestet werden.

Pulse of Europe versteht sich als überparteiliches Bündnis

Parteipolitisch will Pulse of Europe sich nicht vereinnahmen lassen. „Bei uns gibt es Mitstreiter, die das ganze demokratische Parteienspektrum abdecken“, sagt der Marketingfachmann Peter Funk aus Berlin. Er selbst hat vor der letzten Bundestagswahl den „Euromat“ mitentwickelt – einen „Wahl-O-Mat“ zu den Europathemen der Parteien. Seit der Wahl informiert Pulse of Europe gemeinsam mit dem Thinktank Polis180 auf Twitter regelmäßig über aktuelle Europanachrichten (@HelloEuromat). „Wir wollen einen Beitrag leisten, dass eine stärkere europäische Öffentlichkeit entsteht“, sagt Funk. Das Netzwerken mit anderen proeuropäischen Initiativen und Thinktanks gehört für ihn dazu.

Ihre Aufgabe sehen die Macher von Pulse of Europe jedenfalls noch lange nicht als erledigt an. Nach den Wahlen in den Niederlanden und in Frankreich habe sich bei vielen offenbar das Gefühl eingestellt, dass Europa gerettet sei, sagt Hartung. „Aber das ist ein Trugschluss. Europa hat allenfalls Zeit gewonnen.“ Nicht nur ein Austritt aus der EU – wie der Großbritanniens – führe zu einem Zerfall europäischer Werte. Auch die Entwicklungen etwa in Ungarn und in Tschechien seien gefährlich für Europa.

Das Dresdner Team denkt deshalb auch darüber nach, wie sie diejenigen erreichen können, die vielleicht noch nicht ganz von Europa überzeugt sind. „Die Menschen, die bisher mitgemacht haben, wissen ja, wie wertvoll ein geeintes Europa ist. Wir wollen aber auch mit denen ins Gespräch kommen, die skeptisch sind“, sagt Vulpius. Ihr Freiburger Kollege Moritz Pohle fände es gut, vor der Europawahl auch in die Stadtteile zu gehen, in denen die Wahlbeteiligung niedrig sei, und dort mit den Menschen über Europa zu reden. „Uns wurde ja oft der Vorwurf gemacht, wir seien zu elitär oder zu bürgerlich“, sagt er. „Wir wollen den Menschen nicht nur bewusst machen, welche gigantischen Vorteile sie durch Europa haben. Wir müssen auch klarmachen, dass man dafür eintreten muss.“

Der Text erschien in der "Agenda" vom 24. April 2018 - einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

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