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Andreas Reinicke und seine Frau, Andrea Maiweg, bei einem Konzert in der Hafenstadt Bizerte.

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Deutscher Botschafter in Tunesien: Ein freundlicher Ratgeber

Wo der arabische Frühling seinen Anfang nahm: Andreas Reinicke leitet die deutsche Botschaft in Tunesien. Das erfordert Fingerspitzengefühl.

Es war wohl doch mehr als die übliche und oft nur vordergründige Diplomatenfreundlichkeit, die ein französischsprachiges Nachrichtenportal in Tunesien vor einigen Monaten zu einer blumigen Formulierung im Zusammenhang mit dem deutschen Botschafter trieb. Gerade war bekannt geworden, dass Andreas Reinicke, unser Mann in Tunis, länger als üblich auf Posten in Tunesien bleiben sollte. Im März 2014 hatte ihn das Auswärtige Amt in das Land gesandt, in dem jener arabische Frühling im Dezember 2010 begann, der nacheinander viele arabischen Staaten erschütterte. Nun hieß es über Reinicke, seine Beziehungen zu den staatlichen Stellen, in die Wirtschaft und in die Zivilgesellschaft seien „exzellent“, ihn länger in Tunis zu wissen, sei „au grand bonheur de tous“ – für alle ein großes Glück.

Vermutlich waren es tatsächlich die ausgezeichneten Kontakte Andreas Reinickes, die es angezeigt erscheinen ließen und noch lassen, ihn nicht aus reiner Routine von seinem Platz abzuberufen. Tunesien, nicht nur geografisch das Europa nächste Land Afrikas, war nach der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi am 19. Dezember 2010 von Massenprotesten erschüttert worden, wie sie die bis auf wenige Ausnahmen autoritär regierte arabische Welt bis dahin noch nicht erlebt hatte. Bouazizi setzte angesichts von Behördenwillkür und Demütigungen durch staatliche Instanzen ein Fanal, als er sich mit Benzin übergoss und anzündete. Es war die erste Revolution, die sich binnen Tagen mit Hilfe der sozialen Netzwerke zu einem Flächenbrand ausweitete, der überkommene Machtstrukturen erst erschütterte und dann hinwegfegte.

Wie Dominosteine wurden andere arabische Staaten von der Massenbewegung der unterjochten Bevölkerungen ergriffen: am 5. Januar in Algerien, am 25. Januar in Ägypten, dann in Libyen und, geradezu zerstörerisch, in Syrien. In Tunesien aber solidarisierte sich das Militär mit den protestierenden Menschen. Diktator Ben Ali verließ – seiner Machtbasis beraubt – nach 23 Regierungsjahren am 14. Januar 2011 fluchtartig das Land. Einer neuen Regierung der nationalen Einheit sollten auch Vertreter früherer Oppositionsparteien angehören. Anfang 2014, also etwa zu dem Zeitpunkt, in dem Andreas Reinicke seinen Dienst in Tunis antrat, wurde feierlich eine neue Verfassung verabschiedet. Sie war, da sie Glaubens- und Gewissensfreiheit und gleiche Rechte für Männer und Frauen garantierte, zu diesem Zeitpunkt im arabischen Kulturraum einzigartig. Zwar wird der Islam als Staatsreligion benannt. Aber die Scharia ist in Tunesien nicht das oberste Gesetz – trotz des Wahlsiegs einer islamistischen Partei.

Seit 2014 als "Spezialist für Außenpolitik" in Tunis

Der neue Botschafter, Jahrgang 1955, Jurist, kommt zu diesem Zeitpunkt mit einem vielfältigen Erfahrungsschatz nach Tunesien. Von 1993 bis 1997 war er im deutschen Generalkonsulat in New York. In dieser Zeit gehörte es zu seinen Aufgaben, die Kontakte mit den jüdischen Organisationen in den Vereinigten Staaten zu pflegen. Der jüdischen Welt und der Verantwortung für die deutsche Vergangenheit war er zuvor schon von 1987 bis 1990 an der deutschen Botschaft in Tel Aviv begegnet. „Ich hatte berührende Kontakte mit Überlebenden der Nazizeit“, erinnert er sich im Gespräch. Beides bezeichnet er heute als wichtige Voraussetzung dafür, dass er von 2001 bis 2004 als Botschaftsrat im Vertretungsbüro in Ramallah im Westjordanland arbeiten konnte. Das wiederum war prägende Lebenserfahrung, bevor er deutscher Botschafter in Damaskus wurde. Dem schlossen sich zwei Jahre, von 2012 bis 2013, als Sonderbeauftragter für den Nahostfriedensprozess im Rahmen des Europäischen Auswärtigen Dienstes an. Hier arbeitete er mit der EU-Außenbeauftragten, Lady Ashton, zusammen.

Der Mann, der im März 2014 die deutsche Botschaft in Tunis betrat, zu diesem Zeitpunkt 59 Jahre alt, sieht sich nicht als „Spezialist für den arabischen Raum“. „Ich war an vielen Orten tätig“, sagt er, „ich empfinde mich als Spezialisten für Außenpolitik. Als EU-Sonderbeauftragter für den Friedensprozess im Nahen Osten zu arbeiten, ohne Kontakte zu allen Beteiligten zu haben, wäre völlig unmöglich gewesen.“

Was er in Tunesien vorfand, war ein Land im Lernprozess. Für das Parlament gab es weder eigene Büros noch Mitarbeiter für die Abgeordneten, geschweige denn eine E-Mail-Adresse. Das lag weder an fehlendem Geld noch daran, dass nicht genügend Gebäude vorhanden waren, wissen wir heute. Nein, der „tiefe Staat“ blockierte vieles. Das waren Beamte, die noch dem alten Regime verbunden waren, die aber eben auch dank ihrer Routine das Funktionieren der Verwaltung garantierten. Überrascht hat ihn das nicht: „Die ganze Region ist seit Hunderten von Jahren von oben nach unten gesteuert worden. Demokratie geht andersherum.“ Dennoch warnt er vor Überheblichkeit. In den letzten sieben Jahren sei doch viel erreicht worden. Man mag sich erinnern, wie die Lage zwischen beiden Teilen Deutschlands gewesen ist, sieben Jahre nach dem Fall der Mauer, 1996. Und der arabische Frühling? Gescheitert? Nein, sagt er sehr bestimmt nach kurzem Nachdenken. „Vom arabischen Frühling blieb mehr, als wir glauben.“

Andreas Reinicke lobt die kulturelle Vielfalt. Dass es in einem arabischen Land möglich gewesen ist, über Facebook ein großes Queer-Festival zu organisieren, ganz öffentlich zu feiern – er war mit seiner Frau da und hat es sich angeschaut –, das sei eben für ein islamisches Land ein sehr großer Schritt. „In den Medien wie Fernsehen und Film ist das kulturelle Angebot auf Arabisch deutlich größer geworden, zum Teil mit sehr harten Stoffen, auch mit den Themen Gewalt und Folter während der Zeit unter Ben Ali.“ Die Ära des vor acht Jahren gestürzten Langzeitdiktators wird also aufgearbeitet? Ja, „die tunesische Gesellschaft ist offen, das ist ein Unikat in der arabischen Welt“.

Wirtschaftswachstum gegen Revolte

Was vermag ein westeuropäischer, ein deutscher Botschafter in dieser Situation? Durch Ratschläge helfen. Diskret. Das ist entscheidend. „Es ist ein Land in einer Transformationsphase, eine Demokratie im Werden ... Man darf nie den Eindruck erwecken, wir würden uns in seine inneren Angelegenheiten einmischen. Als Ratgeber hinter den Kulissen kann man schon helfen, etwa wenn sich Akteure unsicher fühlen und fragen: ,Wie macht ihr das denn?‘“

Eine große Rolle spielt in der deutschen Diskussion die Frage, ob Tunesien ein sicheres Herkunftsland ist, ob man Asylsuchende ohne Bleibechancen in Deutschland dorthin zurückschicken kann. Andreas Reinecke sagt spontan, das sei eine sehr deutsche Debatte. Aber beurteilen kann er es schon? Ja, kann er. Sicheres Herkunftsland, Folter, „das sind Begriffe, die breit diskutiert werden, aber auch juristisch wohlabgewogen sein müssen. Als Botschafter bin ich nicht derjenige, dem die Letztentscheidung zukommt. In jedem Fall aber haben wir in den letzten Jahren gerade in Tunesien viele Verbesserungen im Bereich der Menschenrechte gesehen. Wir sprechen hier vor Ort auf allen entscheidenden Ebenen – natürlich mit dem Ziel, unsere Positionen zu verdeutlichen und möglichst umfassende Einblicke zu erhalten. Belastbare und vertrauensvolle Kontakte in viele Richtungen sind dafür essenziell.“

Da passe es ins Bild, dass vor wenigen Tagen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Beschwerde eines 37-jährigen Tunesiers gegen seine Abschiebung als Gefährder zurückgewiesen habe. Zwar drohe dem Mann in Tunesien die Todesstrafe wegen terroristischer Aktivitäten, doch habe Tunesien ein Moratorium bei Hinrichtungen beschlossen, und de facto würden in dem Land alle Todesstrafen früher oder später in lebenslange Haftstrafen umgewandelt.

Natürlich setzt Andreas Reinicke auf eine weitere Stabilisierung des Landes durch Wirtschaftswachstum. Wenn die Jugend Geld verdienen kann, entfällt der wichtigste Grund zur Revolte. Das Land ist reich an Rohstoffen, rund um die Öl- und Phosphatvorkommen wächst Industrie. 30 Prozent der Arbeitskräfte Tunesiens finden hier einen Job. Reinecke, dessen Frau Unternehmensberaterin ist, bahnt hier wie auch sonst überall in der tunesischen Gesellschaft Kontakte an: „Es gibt 255 deutsche Firmen in Tunesien, Autozulieferer vor allem, es gibt Handarbeit in großen Fabriken etwa beim Flechten von Kabelbäumen, und es werden hochwertige Textilien produziert.“ Der hervorragende Ruf der deutschen technischen Universitäten hilft ebenfalls der Wirtschaft: „Zum Ingenieurstudium wollen alle nach Deutschland.“

Auch auf den Tourismus setzt die Regierung weiter. 1.300 Kilometer Mittelmeerküste mit breiten Sandstränden und das Klima sind Trumpfkarten – wenn nicht wieder der islamistische Terrorismus das Land um Jahrzehnte zurückwirft. 2002 starben bei einem Anschlag auf die Synagoge der Ferieninsel Djerba 21 Menschen, darunter 14 Deutsche. 2015 ermordeten Islamisten an einem Strand nahe Sousse 39 Touristen. Aber 600.000 Tunesier leben in Frankreich, 140.000 in Italien, 80.000 in Deutschland. Das sind Brücken, auf deren Tragkraft die tunesische Politik hofft. Und, so scheint es, Andreas Reinicke hofft mit.

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