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EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos betreut das derzeit wichtigste Thema in Europa – aus der zweiten Reihe.

© Francois Lenoir/REUTERS

Dimitris Avramopoulos: Wo ist der Flüchtlingskommissar in der Flüchtlingskrise?

Dimitris Avramopoulos ist in der EU-Kommission für die Flüchtlingspolitik zuständig. Der Grieche gilt als fleißig, nett und freundlich. Nur nimmt ihn kaum jemand wahr.

Ortstermin in Calais. Die Politik muss Flagge zeigen. Dass sie sich kümmert. Und so besichtigen Frankreichs Premier Manuel Valls, sein Innenminister Bernard Cazeneuve und EU- Kommissionsvize Frans Timmermans an diesem Tag in der vergangenen Woche die Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber in der Hafenstadt an der Kanalküste, die wie der Bahnhof von Budapest, die griechische Insel Kos oder das sächsische Heidenau als trauriges Symbol einer gescheiterten Flüchtlingspolitik gilt. Mit von der Partie ist – natürlich – auch Dimitris Avramopoulos, der für alle Migrationsfragen zuständige Brüsseler Kommissar aus Griechenland.

Sein Pressestab ist nicht zufrieden mit dem Auftritt. Zu wenig auffällig schlappt der Chef in der zweiten Reihe über das Gelände, ohne dass ihn die Fernsehkameras, die den Tross begleiten, ordentlich einfangen könnten. Den entsprechenden Hinweis seiner Medienleute aber wehrt der 62-Jährige ab: "Ich muss nicht immer im Bild oder an vorderster Front sein."

Er spielt bisher nur eine Nebenrolle

Dort steht Dimitris Avramopoulos tatsächlich nicht – obwohl sein Zuständigkeitsbereich, die Flüchtlingspolitik, das alles beherrschende Thema ist. Eher ist gelegentlich die erstaunte Frage zu hören, wo eigentlich der Flüchtlingskommissar in der Flüchtlingskrise abgeblieben sei. Der potenzielle Hauptdarsteller mit Minister- und Brüssel-Erfahrung spielt in der EU-Kommission von Jean-Claude Juncker nur eine Nebenrolle.

Er fühlt sich, wie Vertraute berichten, wohler darin. Schon in der Griechenlandkrise scheute der griechische Kommissar die europäische Öffentlichkeit. Er ist, trotz seines USA-Studiums zumindest auf Englisch, keiner, der knackige Botschaften unters Volk streut, sondern auf einer Pressekonferenz schon mal wenig telegen einen 20-minütigen Eingangsvortrag hält. Auch die Sicherheitsdebatte nach dem Anschlag im Thalys-Zug von Amsterdam nach Paris, ebenfalls in Avramopoulos' Portfolio, fand weitgehend ohne ihn statt.

Avramopoulos zieht die Sacharbeit vor

"Er überlässt das Scheinwerferlicht anderen wie Juncker oder der Außenbeauftragten Federica Mogherini und steht weniger in der Öffentlichkeit als Cecilia Malmström zuvor", urteilt ein belgischer Regierungsvertreter, was ihm zufolge nicht unbedingt schlecht sein muss: "Avramopoulos zieht die Sacharbeit vor, seine Vorschläge sind viel weitergehender und radikaler als die seiner Vorgängerin."

Tatsächlich wird innerhalb der Kommission beteuert, dass der Vorschlag für einen Verteilungsschlüssel, den Militäreinsatz gegen Schleuser oder die Idee einer europäischen Grenzschutzbehörde nicht allein im Büro Juncker entstanden sind, sondern zu großen Teilen in Avramopoulos' Team. Nur sei es eben am Chef aus Luxemburg, die Vorschläge zu verkaufen, beziehungsweise am Vize Timmermans, die Bemühungen der Behörde zu koordinieren. Es bleibt dann für den Griechen nicht mehr viel Anerkennung übrig, die zumindest die Bundesregierung der Kommission beim Flüchtlingsthema zollt. Schließlich sitzen die Blockierer in dieser Frage nicht in Brüssel, sondern in London, Budapest oder Prag.

Und so ist es schwer, jenseits dieser Hauptstädte jemanden zu finden, der Avramopoulos' Arbeit hart kritisieren mag – von den offenbar Rechtsextremen mal abgesehen, die ihn bei seinem Besuch auf der Insel Kos am vergangenen Freitag als Verräter beschimpften. Anfangs, ja, da war die Skepsis gerade bei Linken und zivilgesellschaftlichen Gruppen groß. Ein konservativer Ex-Verteidigungsminister aus Griechenland als Flüchtlingskommissar? Das müsse ja schiefgehen, hieß es. Der frühere Athener Bürgermeister habe den Posten nur erhalten, weil beim Thema Migration keine großen Dinge erwartet worden seien, lästert ein Europaabgeordneter der Union, also immerhin aus der eigenen Parteienfamilie wie die Nea Demokratia von Avramopoulos.

Nun aber zeugen die Urteile von Respekt: Ein "solider Arbeiter" sei der Neue, heißt es in der CDU. "Er ist zwar kein großer Visionär", sagt selbst die Grünen- Europaabgeordnete Ska Keller, "aber er blockiert nicht und ist willens, etwas zu bewegen." Ein deutscher Diplomat schlussfolgert: "Entweder Avramopoulos ist gut, oder seine Leute sind es – jedenfalls kommt etwas dabei heraus."

In seiner griechischen Heimat ist er beliebt

Das ist ein kaum versteckter Hinweis auf Avramopoulos' wichtigsten Macher im Hintergrund, den Deutschen Matthias Ruete. Der leitet in der Kommission die Generaldirektion Migration und Inneres und gilt als "Gehirn" auch jener neuen Vorschläge, die Juncker an diesem Mittwoch präsentieren will. Mit langen Entscheidungsvorlagen muss der Deutsche Avramopoulos jedoch nicht kommen, weil er die nicht lesen würde. Der Grieche diskutiert lieber mit seinem Team die wichtigsten Punkte durch – bevorzugt in seinem Büro bei lauter klassischer Musik.

Der umgängliche Typ, in seiner Heimat Griechenland beliebter als die meisten anderen Politiker der alten Garde, kommt also nicht nur bei den nationalen Ministern an, denen er seit Monaten die Flüchtlingsquote schmackhaft zu machen versucht – schon Ende Juni etwa in Budapest. Auch in der Kommission mögen sie ihn. "Er ist nett", sagt einer aus dem Führungszirkel, um dann doch hinzuzufügen: "Er könnte aber präsenter sein."

Da ist er wieder, der Vorwurf: Wo ist der Flüchtlingskommissar in der Flüchtlingskrise? Auch in seinem eigenen Team wird eingestanden, dass es "eine Weile gedauert hat, bis er wirklich angekommen ist", wie eine Mitarbeiterin sagt. "Er ist eben noch sehr in der Athener Politik verwurzelt."

Jetzt aber soll alles besser werden. Seit vergangener Woche geht Dimitri Avramopoulos dorthin, wo es wehtut – an die Öffentlichkeit, zu den Flüchtlingen nach Calais und Kos. Dort hat er zugegeben, von der Wucht des Problems "überrascht" worden zu sein, und die Zuhörer darauf eingestimmt, dass es "nicht über Nacht gelöst sein wird und den politischen Willen aller Europäer erfordert". Am Montag hat der Kommissar diese Botschaft auch in Deutschland verbreitet. Nach dem Besuch der Aufnahmeeinrichtung im österreichischen Traiskirchen überquerte er selbst die Grenze – ins bayerische Rosenheim.

Der vollständige Text erschien in der "Agenda" vom 8. September 2015 - einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

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