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Jens Spahn gilt neben Annegret Kramp-Karrenbauer und Armin Laschet als möglicher Nachfolger von Angela Merkel.

© Kay Nietfeld/dpa

Jens Spahn über Politik der Mitte: Wie ich mir Deutschland vorstelle

Er ist Merkel-Kritiker und zugleich Hoffnungsträger der CDU. In einem Gastbeitrag legt Jens Spahn seine Idee von einer Politik der lebensklugen Mitte dar.

Angela Merkel hat auf die Frage, wo die Mitte ist, einmal schön trocken, wie es ihre Art ist, gesagt: „Die Mitte ist rechts von links.“ Man kann offenbar die Mitte nicht denken ohne das, was darum herum ist. Und ich habe den Eindruck, dass es da zwischen „links“ und „rechts“ in den letzten Jahren sehr interessante Verschiebungen gegeben hat.

Religionskritik zum Beispiel war einmal etwas Linkes. Für Frauen und Emanzipation zu kämpfen, oder für die Rechte von Homosexuellen, das war einmal etwas Linkes, Linksliberales. Wenn ich aber heute mit Blick auf einen reaktionär konservativen Islam gegen Zwangsheirat, Vollverschleierung, Ehrenmord, Antisemitismus, Homophobie argumentiere, heißt es immer: Spahn ist rechts.

Eine heutige, vernünftige, lebenskluge Politik der Mitte wäre für mich erst einmal genau das: ein freundliches, offenes, aber auch klares Selbstbewusstsein, wer wir sind und wie wir gemeinsam leben wollen in diesem Land. Liberal sein, aber nicht im Nirvana kultureller Gleichgültigkeit.

Jeder, der in diesen Wochen ins Land hineinfühlt, und so feinfühlig muss man dafür gar nicht sein, merkt doch, dass die Bürger da vor allem umtreibt, wie wir mit der Migration umgehen und wie die Integration derer gelingen kann, die hierbleiben.

Es wird dabei immer deutlicher, dass es eben doch Grenzen dessen gibt, was eine Gesellschaft in kurzer Zeit an Zuwanderung, insbesondere aus anderen Kulturräumen, verarbeiten kann. In der Politik wissen das vor allem Bürgermeister und Landräte aller Parteien längst.

Wir müssen als Land lernen, darüber zu sprechen, ohne uns gegenseitig mit Beschimpfungen und Verdächtigungen zu überziehen.

Was klüger als eine Überfokussierung auf Teilgruppen ist

Aber wir müssen auch auf allen anderen Gebieten wieder eine Politik machen, die Achtung und Anerkennung findet – eine Politik, die auf nachvollziehbaren Wegen erkennbare Probleme zu lösen versucht, lebensnah und lebensklug.

In der Gesundheitspolitik heißt das gerade zum Beispiel, die Situation der Pflege in einer alternden Gesellschaft spürbar zu verbessern – daran glauben die Menschen ja manchmal schon nicht mehr, dass die Politik das überhaupt will, oder überhaupt kann. Aber wir müssen es zeigen, dass demokratische Politik Dinge spürbar verbessern kann: um die Leute in eine überzeugte Zustimmung zu unserer politischen Ordnung zurückzuholen.

Eine vernünftige, lebenskluge Mitte hält die Förderung und steuerliche Entlastung von Familien und Alleinerziehenden mit Kindern, die unsere Gesellschaft tragen, für den Anfang jeder erfolgreichen und tragfähigen Sozial- und Gesellschaftspolitik. Gesellschaft beginnt mit der Familie – und nicht mit der Sozialversicherung. Die Konzentration auf Familien ist auch demokratiepolitisch klüger als eine Überfokussierung auf Teilgruppen, zu denen ich ja selbst gehöre. In Amerika hat gerade auch diese falsche Schwerpunktsetzung der Demokraten zur Wahl Trumps geführt.

Man muss keine Politik der Mitte machen, sondern eine Politik des Vernünftigen, Politik um nach vorne zu kommen. Das ist eben oft auch Politik der Außenseiter, wenn man schon solche Begriffe nutzen soll.

schreibt NutzerIn ack

Alles daran setzen, dem Rechtsstaat Respekt zu sichern

Eine vernünftige, lebenskluge Mitte schätzt und achtet die Institutionen dieses Landes, unseres Staates. Sie setzt alles daran, dem Rechtsstaat Respekt zu sichern, Straftaten egal welchen Hintergrundes gleichmäßig zu ahnden und rechtsgültige Entscheidungen, etwa Abschiebungsentscheidungen, auch zu vollziehen. Sie findet auch, wir können stolz sein auf unseren Sozialstaat. Die täglich millionenfach praktizierte Solidarität zwischen denen, denen es besser geht, und denen, die es im Moment schwerer haben, ist eine Stärke unseres Gemeinwesens.

Eine vernünftige, lebenskluge Mitte erhält sich neben christlicher Nächstenliebe einen Sinn dafür, dass es in diesen Zeiten eines hohen Migrationsdrucks auch um das weitere Funktionieren unserer sozialen Ordnung geht: Unser politisch-demokratischer Grundkonsens, die grundgesetzlich verankerten Vorstellungen, wie wir zusammenleben wollen, funktionierende soziale Sicherungssysteme oder auch ein guter Zustand unserer Bildungsinstitutionen – das sind Werte, die wir bewahren müssen.

Neue Studien zur Situation an den Schulen mit vielen Kindern ohne Deutschkenntnisse zeigen uns ja bereits Alarmierendes. Auch ein liberaler Rechtsstaat kann die Rechte seiner Bürger nur dann schützen, und das, was ihnen zusteht, nur dann garantieren, wenn er mit den Ressourcen haushaltet.

Eine vernünftige, lebenskluge Mitte redet bei der Integration, aber auch in Fragen der allgemeinen Sozial- oder Bildungspolitik, nicht nur über die Bringschuld der Gesellschaft, sondern auch über die Holschuld des Einzelnen. Angebote gibt es reichlich – Kinderbildungspakete, Bibliotheken, Sprachkurse oder Weiterbildungen. Sie müssen auch genutzt werden.

Wer bei uns heimisch werden will, ist herzlich eingeladen, das zu tun. Aber diese Einladung gleichgültig oder gar feindselig auszuschlagen, das finden immer weniger Menschen legitim und tolerabel – von Straftaten und Gewalt gegen Bürger und Staat, die sie aufgenommen haben, gar nicht zu reden.

Eine starke EU ruht auf den Schultern starker Nationalstaaten

Wie stellt sich eine vernünftige, lebenskluge Mitte zu Europa? Europa ist deutsche Staatsräson, deutsches nationales Interesse. Europäische Politik ist längst zu deutscher Innenpolitik geworden. Aber eine vernünftige, lebenskluge Politik der Mitte kann nichts anfangen mit dem Traum einer Auflösung der Nationen in einem Europäischen Superstaat. Eine starke Europäische Union ruht auf den Schultern starker Nationalstaaten. Der primäre Raum der Demokratie ist noch immer der Nationalstaat – auch weil er noch eben die richtige Größe für Zusammengehörigkeit, Zugehörigkeit und staatsbürgerliches Engagement hat.

Und für EU und Währungsunion gilt das, was auch für die Rechtsordnung im nationalen Rahmen gilt: Risiko und Haftung, Entscheidung und Verantwortung müssen beieinanderbleiben – dann gibt es die Chance, dass Entscheidungen möglichst vernünftig und nachhaltig getroffen werden. Wer weiß, dass er am Ende dafür einstehen muss, der überlegt sich die Dinge gut. Auch das ist Lebensklugheit.

Wenn wir so, als starke nationale Demokratien, vereint in der Europäischen Union, in der Welt unsere Lebensweise, unsere Gesellschaftsordnung kraftvoll und attraktiv vorleben und für sie werben und sie vertreten, mit gesicherten Außengrenzen, mit einer Stimme und gemeinsamen Kräften auch in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik – dann ist das das Europa, das jedenfalls ich mir wünsche, und das – da bin ich sicher – auch Zustimmung findet bei den Bürgerinnen und Bürgern.

Es geht um ein berechtigtes Bedürfnis nach Verlässlichkeit

Bei uns selbst, in Deutschland, kommt es darauf an, dass wir als alternde Gesellschaft kreativ bleiben. Die wirtschaftliche Lage heute ist sehr gut – aber sie wird nicht immer so bleiben. Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht ausruhen; dass wir nicht nur Früchte ernten, sondern auch neu säen, dass wir neugierig bleiben und zukunftszugewandt. Gerade bei der Digitalisierung – da können wir dynamischer werden; so dynamisch, wie es andere längst sind.

Und schließlich: Politik aus einer vernünftigen, lebensklugen Mitte heraus trägt dazu bei, dass die Gesellschaft zusammenhält. Für Zusammenhalt ist heute vor allem und gerade auch etwas Kulturelles nötig: dass die Menschen sich weiter hier zu Hause fühlen. Dass sie ihre Dörfer und Städte noch wiedererkennen. Dass es da noch die Dinge gibt, die zur Heimat gehören, die Halt geben: vom Bäcker über die Schule, das Krankenhaus, das Volksfest bis zum Pfarrer.

Es geht um eine Politik für ein neues und berechtigtes Bedürfnis nach einer gewissen lebensweltlichen Verlässlichkeit auch des sozialen Verhaltens. Das Bewusstsein scheint zu wachsen, dass wir im alltäglichen Zusammenleben nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten brauchen – und Tugenden wie Anstand, Leistungsbereitschaft, Zugewandtheit und Respekt gegenüber den Mitmenschen, Achtung voreinander, Aufmerksamkeit füreinander.

Mein Eindruck ist, dass wir eine neue Wertschätzung stützender Zugehörigkeiten erleben, von Herkunft und Bindungen, von Verantwortungsbeziehungen in Familie, Lebensumfeld und Gesellschaft oder Nation. Mein Eindruck ist, dass man auch neu zu verstehen beginnt, dass sich die Zukunft unseres Gemeinwesens in den Kommunen und Stadtteilen entscheidet, an den Orten des alltäglichen gemeinsamen Gestaltens der gemeinsamen Lebenswelt, wo Bildung, Integration, Arbeit, Gesundheit zuerst gelingen oder eben scheitern und wo der öffentliche Raum, unsere alltäglichen Lebensräume, eine Selbst-Wertschätzung, eine Selbst-Achtung der Bürgerschaft ausstrahlen müssen.

Das alles, zusammen mit einem Zutrauen in die positive, leistungsbereite Haltung der Allermeisten; freie Entfaltung ermöglichen; Unterschiede, zu denen die führt, begrüßen; aber Rahmen und Spielregeln gemeinsam geben und garantieren; alles auf der gemeinsamen Grundlage der Bejahung unseres Gemeinwesens. So stelle ich mir unser Land und unsere Zukunft vor – und ich denke, viele andere auch.

Jens Spahn, 38, ist seit 1997 CDU-Mitglied und seit März 2018 Bundesgesundheitsminister im vierten Kabinett von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Der Text beruht auf einer Rede, die er am 6. September 2018 an der Bonner Akademie für Forschung und Lehre Praktischer Politik gehalten hat.

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