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Abstimmung im Bundestag.

© picture alliance / dpa

Mehr Abgeordnete im Bundestag: 2017 kann es eng werden im Parlament

Nach einer Experten-Schätzung für den Tagesspiegel könnte der nächste Bundestag deutlich mehr Abgeordnete haben. Bundestagspräsiden Norbert Lammert will das verhindern – aber wie?

Spätestens seit dem 13. März hat Norbert Lammert eine Sorge mehr. Seit in drei Bundesländern neue Landtage mit mehr Fraktionen als bisher gewählt wurden, muss der Bundestagspräsident fürchten, dass auch das nächste Parlament ziemlich groß wird. Weitaus größer, als es sein sollte. Weshalb Lammert intensiv darüber nachdenkt, wie eine solche Aufblähung des Bundestages verhindert werden kann. Denn: Nach derzeitigem Stand dürfte der im September 2017 gewählte Bundestag deutlich mehr Abgeordnete haben als heute. Mindestens einige Dutzend, in bestimmten, wenn auch aktuell nicht absehbaren Konstellationen, sogar mehr als hundert.

Die Normalgröße des Parlaments liegt bei 598 Abgeordneten, die Hälfte davon direkt gewählt in den Wahlkreisen, die andere Hälfte über die Parteilisten – zusammen muss der Parteienproporz abgebildet werden. Aber diese spezifische Verbindung von Direktwahl und Verhältniswahl führt dazu, dass Überhangmandate entstehen können. Zudem gibt es Ausgleichsmandate. Sie wurden eingeführt, nachdem das Bundesverfassungsgericht 2012 entschieden hat, dass Überhangmandate nur in einem begrenzten Umfang zulässig sind, weil sie das Ergebnis der Verhältniswahl (und allein diese zählt) verzerren. Mit den Ausgleichsmandaten wird der Proporz wiederhergestellt. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erringt, als ihr dort an Sitzen nach dem Zweistimmenergebnis insgesamt zustehen.

AfD und FDP im Parlament verschärfen das Problem

Das Problem ist nun, dass Überhangmandate und Ausgleichsmandate das Parlament vergrößern, unter Umständen weit über die Normalgröße hinaus. 2013 führten nur vier Überhangmandate der Union zu 29 Ausgleichsmandaten, und damit zu einer Parlamentsgröße von 631 Sitzen. Bei vier Fraktionen im Parlament. Für 2017 muss man mit dem Einzug der AfD und wohl auch der FDP rechnen. Doch jede Partei mehr im Bundestag verschärft das Problem der automatischen Parlamentsvergrößerung noch.

Diese Entwicklung erahnend hat Lammert kürzlich mit den Fraktionsvorsitzenden über mögliche Auswege gesprochen. Ein Ergebnis gab es nicht. Aber es gibt Überlegungen, die offenbar in zwei Richtungen gehen: die Zahl der Mandate zu deckeln oder die Zahl der Wahlkreise zu verringern. Lammerts Sorge hat wohl auch damit zu tun, dass er der Partei angehört, die für die künftige Größe des Parlaments der entscheidende Faktor ist. Die CDU ist derzeit die „Anker-Partei“ im System, die stärkste Kraft, auch wenn sie schon stärker war. Sie vor allem erringt Direktmandate. Zwar gibt es keine Faustregel, aber je schwächer CDU und CSU in der aktuellen Parteienkonstellation abschneiden, desto größer wird die Zahl der Überhang- und der Ausgleichsmandate sein. Bei der Wahl 2013 lag die Union bei 41,5 Prozent, aktuell messen die Demoskopen nur etwa 35 Prozent. Schwächelt zudem noch die SPD, die als zweite Kraft eine nennenswerte Zahl an Direktmandaten holt, wird das Problem noch verschärft. Direktmandate von Linken, Grünen oder der AfD (die zuletzt in Sachsen-Anhalt und Baden- Württemberg Wahlkreise gewinnen konnte) wirken sich praktisch nicht aus.

Zwischen 661 und 687 Mandaten

Exklusiv für den Tagesspiegel hat der Wahlexperte Joachim Behnke von der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen auf der Basis der aktuellen Umfragewerte Berechnungen erstellt, die in Schätzungen zur Sitzverteilung münden – mehr wäre aus seiner Sicht nicht seriös. Mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit wird die Zahl der Mandate, läge das Ergebnis 2017 tatsächlich nahe den heutigen Umfragen, zwischen 661 und 687 liegen. Ursächlich für die Bandbreite ist, dass eine „gewisse Variation der Veränderungen zwischen den Wahlkreisen“ zu berücksichtigen ist, wie der Politikprofessor sagt. Eine bundesweite Umfrage lässt sich nicht eins zu eins auf jeden Wahlkreis übertragen – das aktuell schwächere Abschneiden der Union im Vergleich zu 2013 wird nicht in allen Wahlkreisen gleich durchschlagen.

Um aber ein konkretes Beispiel zu simulieren, hat Behnke (siehe Grafik) angenommen, dass CDU und CSU gegenüber der vorigen Wahl gleichförmig verlieren. Dann würde die CDU 201 Direktmandate gewinnen, die CSU 45. Die Sozialdemokraten kämen auf 46 gewonnene Wahlkreise, die Grünen wieder auf einen. Da die CDU allein (angenommen werden 28 Prozent der Stimmen) nach dem Proporz nur 180 Mandate haben dürfte, entstehen also 26 Überhangmandate. Die CSU hätte davon zwei, die SPD eines, insgesamt wären es 29. Dies würde zu insgesamt 51 Ausgleichsmandaten führen: 19 bei der SPD, je neun bei Grünen und AfD, acht bei der Linken, fünf für die FDP und noch eines für die CSU (weil sonst der Proporz nicht abgebildet würde). Insgesamt wäre der Bundestag damit um 80 Sitze größer als normal, es wäre der größte in der Geschichte, trotz der Reduzierung der Sitzezahl ab 2002. Eine noch stärkere Erhöhung könnte es geben, wenn die CSU besonders schwach abschneidet. Da sie nur in Bayern antritt, der Ausgleich aber bundesweit erfolgt, hat jedes Überhangmandat der CSU eine besonders große Ausgleichswirkung.

Deckelung der Sitzezahl? Weniger Wahlkreise?

Doch was sind realistische Möglichkeiten, eine massive Parlamentsvergrößerung zu vermeiden? Eine Deckelung des Ausgleichs wäre laut Behnke „verfassungsrechtlich bedenklich und politisch wohl kaum durchsetzbar, da davon die CDU einseitig profitieren würde“. Eine Verringerung der Wahlkreise könnte eine Lösung sein, Behnke geht von 240 statt 299 aus. Der Wissenschaftler selbst favorisiert ein System mit Zweierwahlkreisen – also mit zwei direkt gewählten Kandidaten je Wahlkreis (eben die mit den meisten Stimmen). Die Zahl der Wahlkreise müsste dann deutlich geringer sein. Auch das wäre freilich ein Einschnitt. Behnke rechnet nicht damit, dass es zügig dazu kommen würde: „Beide Lösungen würden einen Neuzuschnitt der Wahlkreise benötigen und sind daher aus praktischen Gründen vor 2017 nicht mehr zu bewerkstelligen.“

Denkbar wäre auch die „Neutralisierung“ von Überhangmandaten einer Partei durch Verrechnung mit deren Listenmandaten, wie es Grüne und Linke 2011 vorschlugen. Das aber hieße, dass eine Partei für Überhangmandate in einem Land mit Abzug von Listenmandaten in einem anderen Land „bezahlen“ müsste. Diese Länder wären damit insgesamt unterrepräsentiert. Laut Behnke träfe es vor allem Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen; im Extremfall könnte eine Partei in einem kleineren Bundesland ganz ohne Mandate bleiben. In den Fraktionen des Bundestages geht man nicht davon aus, dass sich schon zur nächsten Wahl etwas ändern lässt. Denn die Vorbereitungen für die Wahl laufen bereits, bald beginnen die Aufstellungsverfahren für die Kandidaten. Und den üblichen Neuzuschnitt der Wahlkreise: Den will das Parlament schon in der kommenden Woche beschließen.

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