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Schwer berechenbar: Manche fürchten, dass der Bundestag durch das aktuelle Wahlrecht 700 Abgeordnete bekommen könnte – oder noch mehr.

© Wolfgang Kumm/dpa

Neues Wahlrecht für den Bundestag: Einfach, gerecht und demokratisch

Keine Überhangmandate, keine Ausgleichsmandate, keine Abschaffung von Wahlkreisen: Wie das Wahlrecht für den Bundestag ohne größere Eingriffe reformiert werden könnte. Ein Vorschlag

Das Wahlrecht für den Bundestag ist ins Gerede gekommen. Seit Jahren gibt es eine Debatte, ob und wie weit es reformiert werden muss. Änderungen im Parteiensystem und Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts haben zu Veränderungen geführt, die wiederum weitere Debatten ausgelöst haben. Was der Bundestag dann 2012 beschloss, ist ein etwas unglücklicher Kompromiss, der ein gravierendes Problem hat: das Zulassen von Überhangmandaten und deren Ausgleich durch weitere Mandate, bis der Parteienproporz wieder stimmt, lässt bis zum Wahltag im Unklaren, wie viele Sitze das Parlament am Ende haben wird. Sein Umfang (die Mindestgröße des Bundestags liegt derzeit bei 598 Mandaten) ist damit schwer kalkulierbar. Das Schreckgespenst von 700 Abgeordneten und mehr geht um. Die Arbeitsfähigkeit aber wächst nicht mit der Zugabe von Zählkandidaten aus den hinteren Rängen der Landeslisten der Parteien. 

Zur Erinnerung: Überhangmandate entstehen immer, wenn eine Partei in einem Land mehr Wahlkreise und damit Direktmandate gewinnt, als ihr nach dem für die Sitzverteilung ausschlaggebenden Zweitstimmenergebnis eigentlich zustehen. Die Gespräche der Fraktionen, wie man mit diesem Kernproblem unseres Wahlsystems umgeht,  haben zu nichts geführt. Die möglichen Reformen haben freilich auch alle ihre Tücken. Bei den einen Plänen gerät der regionale Proporz aus dem Lot. Bei anderen ist der Parteienproporz gefährdet. Bei manchen Vorschlägen trifft beides zu. Wieder andere setzen bei den Wahlkreisen an. Um Überhangmandate zu vermeiden, müsste wohl ein Drittel der Wahlkreise verschwinden. Es wäre ein tiefer Einschnitt in die gewohnte Wahlkreisgeographie.

Personalisierte Verhältniswahl

Gleichzeitig ist das 1949 eingeführte Mischsystem der personalisierten Verhältniswahl nicht in Misskredit geraten. Die Bürger haben sich daran gewöhnt und schätzen es. Es enthält Komponenten der Mehrheitswahl – über die Wahlkreise, welche die Bürgernähe der Politiker fördern und eine breite regionale Repräsentanz sichern. Aber es gewährleistet auch, und darauf kommt es den Deutschen besonders an, eine gerechte und breite Vertretung der politischen Stimmungen und Richtungen im Volk, indem der Parteienproporz weitgehend abgebildet wird.

Wie aber kann man nun die personalisierte Verhältniswahl erhalten, möglichst nahe am bisherigen System, ohne gravierende Einschnitte, sozusagen minimalinvasiv? Ohne die Unwägbarkeiten des aktuellen Wahlrechts wegen der Überhang- und Ausgleichsmandate. Mit einer festen Größe des Parlaments. Unter Vermeidung der Zuteilung von Überhangmandaten. Der hier skizzierte Vorschlag ist keineswegs originell, sondern setzt Bausteine neu zusammen, die dem deutschen Wahlsystem allesamt nicht fremd sind. Dazu gehört das bestehende Bundestagswahlrecht, eine Anleihe aus dem baden-württembergischen Wahlsystem kommt hinzu, dazu Anregungen aus der Wahlrechtsdebatte der vergangenen Jahre. Der Vorteil: Es muss nicht in die Wahlkreisgeographie eingegriffen werden, diese bleibt mit ihren 299 Wahlkreisen bestehen. Die Wahlkreise behalten auch ihre Funktion grundsätzlich bei. Aber sie verändert sich, und hier müssten sich Wähler und Politik umstellen. Es kommt zu einem Einschnitt in die Komponente der Mehrheitswahl, aber in einer behutsamen Weise. Da sie aber im System der personalisierten Verhältniswahl nachrangig ist, lässt sich dieser Einschnitt rechtfertigen. Zumal er verbunden ist mit mehr demokratischem Wettbewerb – innerparteilich und am Wahltag.

Wie würde gewählt?

Wie würde gewählt? Grundsätzlich bleibt es bei der gewohnten Form mit Erst- und Zweitstimme, ein Kreuzchen für den auserkorenen Wahlkreiskandidaten, eines für die Landesliste der favorisierten Partei. Um zu bestimmen, welche Parteien die Fünfprozenthürde genommen haben, werden die Zweitstimmen bundesweit addiert. Vor der Wahl werden die Sitzkontingente der Länder bestimmt, nach der Zahl der deutschen Einwohner oder der Wahlberechtigten. Denn die Länder sind die Wahlgebiete, die gewohnten Landeslisten bleiben somit. In einem Bundesstaat ist die getrennte Wahl nach Ländern kein Problem. Die Einrichtung von Landesgruppen in den Fraktionen zeigt, dass die Abgeordneten selbst sich immer auch als Vertreter ihrer Länder betrachten.

Allerdings würde es nach dem hier skizzierten Vorschlag künftig zwei Listen geben, nach denen die Mandate verteilt werden. Das ist die entscheidende Änderung – zusammen mit dem Einschnitt, dass nicht alle Wahlkreissieger zwangsläufig einen Sitz im Bundestag bekommen (die allermeisten aber schon). Neben den Landeslisten, die wie bisher von Parteitagen aufgestellt werden, haben alle Parteien auch eine Wahlkreisliste. Die ergibt sich erst am Wahltag, und zwar nach dem Prozentanteil der Erststimmen der Wahlkreiskandidaten. Somit gäbe es keine klassischen Direktmandate mehr, die Entscheidung im Wahlkreis dient der Bestimmung dieser Wahlkreislisten. Die Parteien müssten grundsätzlich in allen Wahlkreisen mit Kandidaten antreten, was aber heute schon weitgehend der Fall ist. Für Kleinparteien könnte man Mehrfachkandidaturen erlauben. Diese Aufstellung einer Liste am Wahltag nach den Einzelresultaten wird in Baden-Württemberg seit langem praktiziert, es ist eine sehr basisdemokratische Lösung. Ganz oben auf einer Wahlkreisliste steht der Wahlkreiskönig oder die Wahlkreiskönigin einer Partei, ganz unten landen die Bewerber mit dem schwächsten Resultat.

Zwei Listen

Die Sitze, die einer Partei nach ihrem Zweitstimmenergebnis aus dem Landeskontingent zukommen, werden nun je zur Hälfte aus der Wahlkreisliste und der Landesliste zugeteilt. Gewinnt eine Partei 28 Mandate, dann werden zunächst den 14 Besten aus den Wahlkreisen ihre Sitze zugeteilt. Die anderen 14 Sitze werden gemäß der Landesliste verteilt, wobei natürlich Landeslistenkandidaten, die bereits über die Wahlkreisliste erfolgreich waren, übergangen werden. Für den Fall einer ungeraden Mandatszahl müsste das Wahlgesetz bestimmen, welche Liste Vorrang hat.

Damit werden, wie gesagt, nicht mehr alle Wahlkreissieger automatisch ein Mandat haben. Doch lässt sich so das Problem der Überhangmandate lösen. Wen aber trifft es? Welcher Bewerber ein Überhangmandat hat, lässt sich nicht bestimmen. Eine Variante der Nichtzuteilung wäre, einfach von unten her, also bei den schwachen Ergebnissen anzusetzen. Damit wäre aber per Gesetz schon von vornherein ein Automatismus festgelegt, was problematisch ist. Die hier vorgeschlagene Variante überlässt es dagegen dem demokratischem Prozess, also der Listenaufstellung der Parteien und dem Votum der Bürger am Wahltag selbst, welcher Kandidat gestrichen wird. Bewerber in schwächeren Wahlkreisen haben  die Chance, einen guten Platz auf der Landesliste zu bekommen. Damit ist bis zur Auszählung unklar, wer beim Auftreten von Überhängen letztlich verzichten muss – sicher ist nur, dass die „Zitterkandidaten“ aus dem Kreis derer kommen, die in nicht in Hochburgen einer Partei antreten und die nicht auf den ganz vorderen Plätzen auf der Landesliste gelandet sind. Hier ist zweifellos Umdenken gefragt, beim Wähler und bei den Parteien – aber der Eingriff ist weit weniger gravierend als man zunächst vermuten würde. Der weitaus größte Teil der Wahlkreise hätte weiterhin „eigene“ Abgeordnete.

Simulation auf Basis der Wahl 2013

Das zeigt eine Simulation. Nimmt man die Ergebnisse von 2013 als Basis, dann zeigt sich, dass auch bei Anwendung des neuen Systems weitgehend jene Kandidaten in den Bundestag eingezogen wären, die heute dort sitzen (natürlich mit Ausnahme der zusätzlichen Ausgleichsmandate, die ja nicht mehr nötig wären). Das liegt auch daran, dass heute schon Doppelkandidaturen in Wahlkreis und auf der Landesliste häufig, ja fast üblich sind, selbst bei den kleinen Parteien. Spielt man es für Niedersachsen durch, wo sowohl CDU als auch SPD bisher ausgewogen Direktmandate schaffen, dann sähen die jeweiligen Landesgruppen praktisch so aus wie heute auch. Nur die Hildesheimer Wahlkreisabgeordnete Ute Bertram hätte Pech gehabt – sie wäre auf der Wahlkreisliste der CDU knapp gescheitert und stand nicht auf der Landesliste (was möglicherweise bei Anwendung des Zwei-Listen-Systems anders gewesen wäre). SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann wäre nicht über die  Wahlkreisliste eingezogen (dafür war sein Erststimmenergebnis knapp zu schwach), aber er stand weit oben auf der Landesliste. Die Grünen wären mit den sechs Abgeordneten vertreten wie jetzt auch. Bei der Linken hätte ein Wahlkreiskandidat ohne Landeslistenplatz die Drittplatzierte auf der Landesliste verdrängt.

Und wie wäre es in einem Land, in dem Überhangmandate entstanden? 2013 war das in Sachsen-Anhalt der Fall: Die CDU gewann alle neun Wahlkreise, hatte aber „regulär“ nur Anspruch auf acht Sitze im Bundestag. Nach dem hier skizzierten Reformmodell wären acht der neun Wahlkreissieger im Parlament, nicht geschafft hätte es der CDU-Kandidat im Wahlkreis Anhalt, Jan de Vries – der zwar nicht das schlechteste Wahlkreisergebnis hatte, aber auf der Landesliste nur auf Platz 9 stand. In der Kombination beider Listen war er zu schlecht platziert. Für die SPD säßen die vier Politiker im Bundestag, die Sachsen-Anhalt jetzt auch vertreten. Für die Linkspartei wäre über die Wahlkreisliste ein Kandidat eingezogen, der es über die Landesliste damals nicht geschafft hat.

Sonderproblem Bayern?

In Bayern ergab sich 2013 aufgrund des guten CSU-Ergebnisses keine Überhangproblematik. Alle CSU-Wahlkreissieger mit einem Ergebnis von mehr als 52,5 Prozent wären über die Wahlkreisliste in den Bundestag eingezogen, die anderen über die Landesliste – bis auf zwei, die dort aber gar nicht standen. Freilich ist eine Simulation auch hier grundsätzlich schwierig, weil das Aufstellungsverfahren in einem Zwei-Listen-System wohl etwas anders verlaufen wäre. Und zwar mutmaßlich so, dass auch diese beiden Kandidaten auf der Liste abgesichert worden wären. Ein Vorteil des Zwei-Listen-Systems: Es gibt kein „Bayern-Problem“, also den massiven bundesweiten Ausgleichsbedarf bei Überhangmandaten der Regionalpartei CSU im jetzigen System. Die „basisfreundliche“ Wirkung des Reformmodells auf kleine Parteien hätte sich 2013 übrigens gerade in Bayern ganz gut gezeigt: Zwei auf der Landesliste aussichtslos platzierte Bewerber der Grünen – der bekannte Rechtspolitiker Jerzy Montag in München und der grüne Wahlkreiskönig Michael Stanglmaier in Freising – wären über die Wahlkreisliste eingezogen.

Pragmatisch, aber machbar

Kurzum: Der Vorschlag ist zwar pragmatisch angelegt. Aber es wäre eine Reform, die das Hauptproblem des bestehenden Systems der personalisierten Verhältniswahl beseitigt, dessen Vorteile aber weitgehend erhält. Es gibt keine Überhangmandate und damit keine Notwendigkeit für Ausgleichsmandate. Es gibt keine unberechenbare Vergrößerung des Bundestags. Man muss nicht in die Wahlkreisgeographie eingreifen. Es ist ein relativ einfaches System, das sehr nahe am alten Modell ist. Das sollte die Änderung mit Blick auf die bisherige Zuteilung von Direktmandaten aufwiegen. Zwar wird bei den größeren Parteien die Mehrheitswahlkomponente, also das Element der Personalisierung, etwas zurückgestutzt, dafür aber bei den kleineren Parteien verstärkt. Ein Verlust an Demokratie ist nicht zu befürchten.

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