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Allerkleinste könnten mitstimmen - durch die Eltern. Für Kritiker verschiebt sich dadurch jedoch das Stimmgewicht.

© Waltraud Grubitzsch/dpa

Parlamente wählen ab Geburt: Abstimmung mit den Füßen

Demokratische Teilhabe muss es von der Wiege bis zur Bahre geben, fordern Befürworter eine Kinderwahlrechts für den Bundestag. Dagegen spricht: Die Verfassung. Soll man sie ändern? Darf man?

Warum sollten sie wählen dürfen? Politik und Staat sind nicht ihre Sache, sie sind dem nicht gewachsen. Sie haben anderes im Kopf und nicht immer ist es nur Verstand. So lauteten die Argumente der Skeptiker, als im 20. Jahrhundert immer mehr Staaten Frauen an den Wahlurnen zuließen. In der zweiten Hälfte kamen auch Länder wie die Schweiz und der Iran dazu, vor zwei Jahren durften Frauen sogar in Saudi-Arabien mitabstimmen, freilich in geschlechtergetrennten Wahlkabinen. Aus der globalen Revolution, die anfangs niemand ernst nahm, ist ein Normalzustand geworden.

So schnell verändern sich die Dinge. Unvorstellbar ist es heute, dass Kinder oder Jugendliche bei Wahlen eine eigene Stimme abgeben wie ihre Eltern. Politik ist Sache der Erwachsenen, wie sie einst Sache der Männer war.

Doch auch diese Selbstverständlichkeit steht in Frage, wiederkehrend und in jüngerer Zeit sogar zunehmend. Einen neuen Vorstoß hat jetzt der Deutsche Familienverband unternommen: „Nur wer wählt, zählt“, proklamiert die Organisation. 13 Millionen Deutsche unter 18 Jahren seien ausgeschlossen. Für sie soll es künftig ein „Wahlrecht ab Geburt“ geben, das die Eltern stellvertretend ausüben können. So lange, bis die Minderjährigen selbst wählen möchten. Dazu müssten sie sich nur in das Wählerverzeichnis eintragen lassen, dann fiele die Stellvertretung weg. Spätestens, wenn der Nachwuchs volljährig ist.

Die Familienministerin ließ Sympathien erkennen

Schirmherrin der Kampagne ist die frühere Familienministerin Renate Schmidt (SPD), ein prominenter Verfechter ist der FDP-Schatzmeister Hermann Otto Solms, der im Herbst wieder in den Bundestag möchte. Unterstützung gibt es parteiübergreifend, wenngleich selten aus den ersten Reihen. Immerhin, die amtierende Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) ließ schon vor Jahren Sympathien für die Idee erkennen.

Die Befürworter setzen auf einen Bewusstseinswandel, angetrieben von der aus ihrer Sicht evidenten Benachteiligung von Millionen Mitbürgern. Wie es mal bei den Frauen war. Hinzu kommt, dass junge und auch jüngste Leute dank Smartphone und Internetzugang in einer Weise mit dem Weltgeschehen verbunden sind, wie es noch keine Generation vor ihnen war. Kriege wie der in Syrien rücken heran, bekommen durch massenhafte Flucht eine unmittelbare Dimension. Parteien wie die AfD und Wahlgewinner wie Donald Trump sprengen den Konsens und reizen zum Widerstand bei einem Jungvolk, das mit kompetent gestalteten Nachrichten wie etwa der Kika-Sendung „logo“ groß geworden ist. Auch unter Zwölfjährigen gibt es heute erstaunlich gut informierte Beobachter des politischen Geschehens.

Staatsgewalt muss von ganzen Volk ausgehen, argumentieren die Unterstützer

Das zumindest vordergründig stärkste Argument der Befürworter ist der demografische Wandel. Während das Wahlrecht nach unten eine Grenze vorschreibt, gibt es zu seiner Wahrnehmung kein Höchstalter. Allein die Zahl der Hochbetagten jenseits der 80 wird sich in den nächsten vier Jahrzehnten mit zehn Millionen mehr als verdoppeln. Jeder dritte Bundesbürger wird dann im Rentenalter sein. Entsprechend werden sich die Themen ändern, mit denen die Politiker Mehrheiten gewinnen wollen. Mit den Stimmen aus den Familien wäre ein Gegensteuern möglich.

Dafür fehlt allerdings die Basis. „Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt“, bestimmt das Grundgesetz in Artikel 38. Eine seltene Deutlichkeit. Die Kinderwahlkämpfer sind dennoch zuversichtlich, sehen in der Verfassung selbst einen fundamentalen Widerspruch angelegt: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, heißt es in Artikel 20, und sie werde „vom Volke in Wahlen und Abstimmungen“ ausgeübt. Von einem Mindestalter ist da nicht die Rede.

Wer nicht mitreden kann soll auch nicht mitwählen, sagen die Gegner

Was zählt denn nun? Volk oder Alter? Weitgehend einig sind sich Verfassungsrechtler, dass für einschlägige Änderungen im Wahlgesetz zumindest auch das Grundgesetz geändert werden muss. Doch selbst wenn sich die dafür nötige Zweidrittelmehrheit fände, besteht die Gefahr, mit der Aufnahme des Familienwahlrechts ein verfassungswidriges Wahlgesetz zu schaffen. Das Wahlrecht ist ein „höchstpersönliches Recht“, betont der Rechtswissenschaftler und frühere CDU- Politiker Hans Hugo Klein, der ehedem selbst Richter am Bundesverfassungsgericht war. Der Wahlberechtigte stehe zum Staat in einem Verhältnis persönlicher Verantwortung. Er dürfe sich dem Recht zwar entziehen, durch Nichtwählen, er dürfe es aber nicht an andere delegieren, schreibt Klein im führenden Grundgesetzkommentar Maunz/Dürig. Demokratische Legitimation könne nur aus Kommunikationsprozessen erwachsen, an denen der Wahlberechtigte teilgenommen oder an ihnen teilzunehmen wenigstens die Chance hatte.

Für Klein ist ein derart treuhänderisch wahrgenommenes Stimmrecht deshalb rundheraus „ausgeschlossen“. Seine Einführung wäre nach Artikel 79 Absatz 3 der Verfassung verboten, der die wesentlichen Prinzipien der Demokratie für unveränderbar erklärt. Mit anderen Worten: Dieser Ansicht nach ist es so, dass mit einem Familienwahlrecht gerade nicht mehr alle Staatsgewalt „vom Volk“ ausgeht, wie es Artikel 20 vorschreibt.

Die heutige Wirtschaftsministerin Brigitte Zypries (SPD) lehnte das Familienwahlrecht in ihrer Zeit als Bundesjustizministerin mit dem Hinweis auf die vorgeschriebene Unmittelbarkeit und Gleichheit der Wahl ab. Treuhänderisches Wählen sei kein unmittelbares Wählen, schrieb sie in der „Zeitschrift für Rechtspolitik“, und die „Kinderstimme“ sei letztlich eine „Elternstimme“ – womit das Stimmrecht von Vätern und Müttern im Ergebnis mehr Gewicht hätte als das von Kinderlosen. Auch Demografie sei kein Argument. Die Zukunft der Kinder sei nicht allein das Thema der Eltern, sondern betreffe die gesamte Politik.

Unwahrscheinlich, dass die Verfassungsrichter dem Gesetzgeber in den Arm fallen würden

Der Familienverband kennt diese Argumente. Er hält ihnen entgegen, dass eine Stellvertretung nichts daran ändere, dass die Stimme dem Kind direkt zugerechnet werden könne. Es gehe also gerade nicht um ein „Treuhandmodell“, sondern die angemessene Repräsentation der eigenen und bislang unberücksichtigt gebliebenen Stimme des Kindes. Dass ein Wahlrecht nur „höchstpersönlich“ ausgeübt werden könne, sehen die Befürworter anders. Es stehe schließlich nichts davon im Grundgesetz.

Wie ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts dazu aussehen könnte – wenn es je dazu kommt –, ist ungewiss. Sollte sich aber eine Zweidrittelmehrheit für eine Grundgesetzänderung gefunden haben, mit der das Mindestalter gestrichen wird, erscheint es eher unwahrscheinlich, dass die Richter dem Gesetzgeber in den Arm fallen würden, sollte er dann das Wahlgesetz anpassen. Denn dann hätte sich gezeigt, dass eine breite Mehrheit hinter dem weiten Verständnis von der Repräsentation des Volkswillens steht.

Aus Wahlrechtsfragen hält sich die Regierung traditionell heraus und überlässt sie dem Parlament. Frühere Vorstöße von fraktionsübergreifenden Gruppen sind gescheitert. Man ist dort weiterhin skeptisch: Kindern fehle die „notwendige persönliche Reife und Urteilsfähigkeit“, um ein eigenes Stimmrecht auszuüben, sagt der CDU-Politiker und Rechtsausschuss-Vize Hendrik Hoppenstedt; obwohl er das Ziel, Familien mehr politisches Gewicht zu geben, „nachvollziehbar“ findet. Der SPD-Sprecher im Familienausschuss Sönke Rix nennt die Vorschläge „gut gemeint“, aber sie seien das falsche Instrument, weil „eine persönliche Einzelmeinung eines Elternteils ein höheres Gewicht bekäme“. Die stärkere Beteiligung der Kinder sei damit nur „vorgetäuscht“.

Ähnlich sieht es die Linken-Politikerin Cornelia Möhring, die sogar befürchtet, dass Kinderlose „zu Wählern zweiter Klasse“ würden. Die Grünen-Rechtspolitikerin Katja Keul zeigt sich dagegen offen: Politische Forderungen würden sich zunehmend nach den Bedürfnissen Älterer richten. Da wäre ein Familienwahlrecht ein „wichtiges Zeichen“.

In der Diskussion kommt auch zum Ausdruck, wie unterschiedlich die Beteiligten demokratische Teilhabe definieren. Beginnt sie erst, wie der Verfassungsjurist Klein meint, mit dem Eintritt in eine politisch diskutierende Öffentlichkeit? Oder ist sie, wovon die Befürworter des Familienwahlrechts ausgehen, schon in den Familien selbst angelegt?

Den Landtag von Schleswig-Holstein durften jetzt auch 16-Jährige wählen

Empirie dazu gibt es wenig. Eine bekannte Studie ist die von Sozialforschern der Uni Mannheim, die politische Orientierung und politisches Bewusstsein von 750 Grundschulkindern über Jahre hinweg untersucht haben. Nach den Befunden der Wissenschaftler werden diese Eigenschaften vielfach unterschätzt. Schon Erstklässler verfügten über elementare kognitive und normative Fähigkeiten im Hinblick auf Demokratie und Politik. Demnach beginnt verantwortungsvolle Staatsbürgerschaft nicht erst mit näherer Kenntnis von Parteien und deren Positionen. Das traditionelle staatsrechtliche Konzept vom „mündigen“ Bürger wirkt da etwas ausgrenzend und strikt.

In der Idee der Reifung zum selbstbewussten Demokraten liegt auch der Charme des Stellvertretermodells. Denn Erwachsenwerden ist auch ein stetiger Aushandlungsprozess mit den Eltern. Kinder wollen mit zunehmendem Alter mehr „dürfen“. Schon die Möglichkeit, über Fächer zu bestimmen, die sie lernen wollen, gibt ein Gefühl der Verantwortung. Warum sollte es in politischen Fragen anders sein?

Ein Anfang wäre die Absenkung des Mindestalters auf 16 Jahre. Dafür gibt es auch Unterstützung bei SPD und Linken. Bei Kommunalwahlen gibt es diese Altersgrenze schon in mehreren Bundesländern. In Schleswig-Holstein durften jetzt sogar 16-Jährige den Landtag mitwählen. Auch in Brandenburg, Bremen und Hamburg ist das möglich. Verfassungsrechtliche Bedenken gibt es hier wenig: Wer mit 18 etwas von Politik versteht und mitredet, tut dies meist auch schon mit 16.

Der Text erschien in "Agenda" vom 15. Mai 2017, einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen

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