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Normalerweise stimmen die Fraktionen im Bundestag in sich weitgehend geschlossen ab.

© dpa/ picture alliance / Kay Nietfeld/

Rebellen im Bundestag: Das Glück der Abweichler

Der Karriere hilft es selten: Was treibt Abgeordnete an, im Bundestag immer wieder gegen die eigene Fraktion zu stimmen?

Er war nicht von Anfang an dagegen. Als der Dortmunder Marco Bülow 2002 in den Bundestag einzog, 31-jährig und voller Überzeugung, als Abgeordneter mit seiner Partei etwas verändern zu können, trug er so gut wie alle Beschlüsse der SPD-Fraktion mit. Selbst wenn er eigentlich anderer Meinung war. Es ist eine Zeit, in der sich Bülow rückblickend als „naiv“ bezeichnet.

Heute verschickt Bülow regelmäßig Pressemitteilungen. „Bülow stimmt gegen Autobahn-Privatisierung“, steht dann zum Beispiel in der Betreffzeile. Oder „Nein zu Ceta“. Der SPD-Mann hat auch gegen die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung gestimmt. Gegen die Verschärfung des Asylrechts. Und 2015 gegen die Gewährung eines 86-Milliarden-Euro-Kreditpakets für Griechenland. Bülow sagte Nein, während seine Fraktion Ja sagte. Mehr als 50 Mal hat er in dieser Legislaturperiode bei namentlichen Abstimmungen anders gestimmt als die SPD.

Wer es gut mit ihm meint, bezeichnet Bülow als „den größten Rebellen im Bundestag“. In der eigenen Fraktion gilt er als schwierig, mancher ist genervt, wenn er sich zu Wort meldet. Der heute 46-Jährige selbst bezeichnet sich als „Querdenker“. Man könnte auch sagen: Abweichler. Einer von wenigen im Bundestag.

Der SPD-Abgeordnete Marco Bülow.
Der SPD-Abgeordnete Marco Bülow.

© Susie Knoll

Zwar ist jeder Abgeordnete nach dem Grundgesetz nur seinem Gewissen unterworfen, an Anweisungen und Aufträge nicht gebunden. Doch dagegen steht die Fraktionsdisziplin, also der Druck, seine eigene Position zugunsten der Fraktionsmeinung zurückzustellen. „Besonders in kleinen Koalitionen ist es wichtig, dass sich die Abgeordneten dem beugen – sonst steht die Regierungsfähigkeit infrage“, sagt Nils Diederich, Politikprofessor an der FU Berlin und selbst ehemaliges Bundestagsmitglied.

Wer herausfinden will, wer die Abweichler der Fraktionen sind, klickt sich durch die Abstimmungsdokumentation des Bundestages oder auf abgeordnetenwatch.de. Freilich sind nur die wenigen namentlichen Abstimmungen von Interesse. Doch auf den Listen derer, die gegen die Fraktionslinie gestimmt haben, tauchen oft immer wieder dieselben Namen auf. Spätestens, wenn man schon voraussehen kann, wer wohl darunter sein wird, ist klar: Man hat sie gefunden, die Querulanten der Parteien.

Manche unterstellen Geltungssucht

Einer von ihnen ist Josef Göppel, 66 Jahre alt, von Beruf Förster und in Zeitungsberichten schon mal als „grünes Gewissen der CSU“ bezeichnet. Er stimmte in dieser Legislatur beispielsweise für einen Grünen-Entwurf zum Fracking und für den Antrag „Neuzulassung von Glyphosat verhindern“ – die Union selbstverständlich dagegen.

Göppels Abweichlertum dürfte zu diesem Zeitpunkt schon niemanden mehr überrascht haben. Er sitzt seit 2002 im Bundestag. Schon immer, sagt er, habe er einen Widerspruch gespürt, „zwischen dem konservativen Anspruch der CSU und ihrem wirtschaftsorientierten Verhalten, bei dem Belange der Natur stets nachrangig sind“. Am Anfang habe man noch versucht, ihm Geltungssucht zu unterstellen, den Drang aufzufallen. „Erst nach einiger Zeit“, erzählt Göppel, „hat die Fraktionsführung erkannt, dass es aus meiner Überzeugung heraus kommt.“

Der CSU-Bundestagsabgeordnete Josef Göppel.
Der CSU-Bundestagsabgeordnete Josef Göppel.

© Josef Göppel

Die Liste derer, die häufiger gegen ihre Fraktion stimmen, lässt sich fortsetzen. Die SPD-Politiker Hilde Mattheis, Klaus Barthel und Cansel Kiziltepe sind darunter. Und dann ist da noch Hans-Christian Ströbele. Der Grünen-Politiker ist ein Urgestein im Bundestag, Er sagt: „Vor allem in der Opposition entscheide ich immer danach, was ich für richtig halte. Jedenfalls solange ich mich auskenne.“ Und auch zu Zeiten von Rot-Grün entschied sich Ströbele so manches Mal, auszuscheren.

Folgenlos bleibt solches Verhalten nicht. Das erzählt auch Marco Bülow. Der Abgeordnete sitzt bei offenem Fenster in einem Café des Bundestages, die schwüle Sommerluft weht herein, Bülow – blaues Hemd, gebräunter Teint – wirkt wie einer, der mit sich im Reinen ist, auch wenn es mit der Karriere in der Partei nichts geworden ist.

Die Bauchschmerzen bleiben

Schon bald nachdem er im Bundestag anfängt, befallen ihn Zweifel: Wie viel Einfluss haben die einfachen Abgeordneten wirklich? Bestimmen nicht am Ende Lobbyisten, Ministerien und die Regierung die Gesetze, während die Abgeordneten nur abnicken? Bei Hartz IV stimmt er noch mit der SPD, auch wenn es sein Gewissen stark belastet. Später beginnt er, nach seinen eigenen Prinzipien zu entscheiden. Abstimmungen über Gesundheitsreformen oder Milliardenhilfen für Griechenland werden für ihn zur Gewissensfrage.

Doch wie er es auch macht, die Bauchschmerzen bleiben. Stimmt er doch gegen seine Überzeugung mit der Fraktion, tut er sich schwer. Stimmt er gegen die Fraktion, gibt es Druck. „Druck, der unter die Gürtellinie ging, der persönlich wurde.“ Da heißt es, dass man für seinen Dortmunder Direktwahlkreis einen Gegenkandidaten besorge. Oder dass er nichts mehr werde in der Partei. Bülow gibt schließlich aus freien Stücken seine Ämter in der Fraktion auf – um freier abstimmen zu können, wie er sagt. Und er schreibt ein Buch. „Wir Abnicker“ heißt es, darin rechnet er mit dem politischen Betrieb ab, nimmt sich selbst nicht aus. Dennoch verfestigt er mit dem Werk seine Außenseiterrolle.

"Massiv Einfluss ausgeübt"

Von Druck erzählt auch Ströbele. Er erinnert sich noch gut an das Jahr 2001, als der damalige Bundeskanzler Schröder nach 9/11 den Bundeswehreinsatz in Afghanistan beschließen will. Doch in der rot-grünen Koalition regt sich Widerstand, acht Grüne kündigen sofort ihre Ablehnung an, bei den Sozialdemokraten gibt es 20 Skeptiker. Ihnen wird von der SPD-Fraktionsspitze mit dem Verlust des Listenplatzes gedroht. Schröder verbindet die Abstimmung schließlich mit der Vertrauensfrage. „In den Tagen davor wurde massiv Einfluss ausgeübt. Es gab viele Anrufe, auch aus den Landesverbänden“, erzählt Ströbele. Am Ende stimmt er mit drei anderen Grünen trotzdem dagegen, Schröder erreicht die Kanzlermehrheit nur knapp.

Die Konsequenzen glaubt Ströbele kurz darauf zu spüren. Bei der Bundestagswahl 2002 bekommt er jedenfalls keinen aussichtsreichen Listenplatz mehr, kandidiert deshalb direkt. Und auch Göppel spricht von direkten Folgen seines Abweichlertums: Sein Amt als Obmann der Union im Umweltausschuss entzieht ihm die Fraktionsspitze wegen seines mehrfach abweichenden Abstimmungsverhaltens.

Sind Abweichler also die einsamen Helden des Politikbetriebs? Suzanne Schüttemeyer sieht das anders. Die Politikprofessorin ist Direktorin des Instituts für Parlamentarismusforschung in Halle. „Parlamentarische Politik ist ein Gruppenspiel“, sagt sie und vergleicht das mit Fußball: Stürmen zehn Spieler auf das Tor des Gegners zu und plötzlich dreht sich einer um, um ein Eigentor zu schießen – „dann werden die anderen ja zu Recht sagen: Warum hast du das gemacht?“ Diese Gruppennorm bringe die meisten Abgeordneten automatisch dazu, gemeinsam mit der Fraktion abzustimmen. Wenn gestritten werde, dann hinter verschlossenen Türen – und bis eine gemeinsame Position gefunden ist. „Dass einer, der ständig gegen die Gruppe und ihre Beschlüsse arbeitet, wenig beliebt ist und außen vor bleibt, ist doch nur naheliegend“, sagt sie.

Immer zwischen Fraktion und Basis

Schüttemeyer sieht aber, unter welch innerem Druck Abgeordnete teilweise stehen. Nicht nur ihr Gewissen kann mit den Zielen der Fraktion kollidieren. Auch die Interessen ihres Wahlkreises können dem entgegenstehen. Schüttemeyers Beispiel: „Wenn etwa die neue schwarz-gelbe Koalition in NRW über das Ende der Kohle abstimmt – und jede Stimme für die Mehrheit braucht: Was macht dann ein Abgeordneter, in dessen Wahlkreis viele Jobs von der Kohle abhängen?“

Auch Bülow fühlt sich seiner Basis stark verpflichtet. Das könnte einer der Gründe dafür sein, dass Bülow seit 2002 das Direktmandat in seinem Wahlkreis holt. Sein Erststimmenanteil liege noch mal um einige Prozent höher als das Zweitstimmenergebnis der SPD. Ähnliches berichtet stolz auch der Abgeordnete Göppel. An der Basis und beim Wähler kommen die Abweichler also offenbar gut an. Auch Ströbele sagt: „Die Anti-Kriegsentscheidung hat mir auch viel Anerkennung eingebracht.“

Der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele.
Der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele.

© dpa

In eine ähnliche Richtung geht eine Studie, die Schüttemeyer miterstellt hat. Diese beschäftigt sich damit, wie Parteien ihre Bundestagskandidaten aussuchen. Die Erkenntnis: „Derjenige Abgeordnete, der häufiger mal ,denen da oben’ Paroli bietet, hat ein besonders hohes Ansehen in der Heimat“, sagt Schüttemeyer. Und sei zu Hause alles in Ordnung, dann habe ein Politiker wenig zu befürchten. „Bei Listenaufstellungen oder der Wahl der Direktkandidaten lässt sich die Basis ungern reinreden von der Parteispitze.“ Die Drohung mit dem Verlust des Listenplatzes oder des Direktwahlkreises sei deshalb eine leere.

Trotzdem glaubt Bülow, dass die Querdenker, die bunten Vögel, die Rebellen, in den Fraktionen weniger werden. „Da spielt wohl auch das Kalkül eine Rolle: Wenn ich mitgehe, wenn ich mitstimme, dann habe ich meine Ruhe. Und um die politische Karriere, den Aufstieg geht es sicher auch“, sagt Bülow.

Aber auch wenn er selbst im klassischen Sinne keine Karriere in Partei und Fraktion gemacht hat, ist für Bülow mittlerweile das Abweichlertum zu einer Art politischem Geschäftsmodell geworden. Er kämpft für die komplette Offenlegung von Lobbykontakten und Nebeneinkünften, gilt inzwischen als „Kämpfer für Transparenz“. Bülow will in der nächsten Wahlperiode erneut in den Bundestag. Deutlich wird: Die Abweichler sind nicht unglücklich mit ihrem politischen Werdegang. Auch Göppel sagt rückblickend: „Ich würde es wieder so machen.“

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