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Im Bundestag gibt es nur sehr wenige Abgeordnete mit Behinderung.

© dpa

Recht auf Teilhabe: Wie geht der Bundestag mit Behinderten um?

Behinderte Menschen sollen voll am politischen Leben teilhaben. Doch es gibt noch immer viele Barrieren - vor allem in den Köpfen ihrer nicht-behinderten Mitbürger.

Im Jahr2010 hat sich Verena Bentele zum ersten Mal über den politischen Betrieb in Berlin gewundert. Damals war die mehrfache Paralympics-Teilnehmerin von der SPD Baden-Württemberg für die Bundesversammlung nominiert worden. Die blinde Biathletin sollte den Nachfolger von Bundespräsident Horst Köhler mitbestimmen. Doch das stellte die Verantwortlichen des Bundestages, die die Wahl organisieren, vor ein Problem. „Die Verwaltung musste erst klären, wie ich als blinde Wahlfrau überhaupt wählen kann“, sagt Bentele, die inzwischen Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen ist. 2010 wurde eine Lösung gefunden, eine Assistentin durfte mit in die Wahlkabine gehen und Bentele bei der Stimmabgabe helfen.

In der Bittstellerrolle

Das eigentliche Problem, so sagt Bentele, und so sehen es auch Vertreter von Behindertenorganisationen, sei aber, dass erst dann Abhilfe geschaffen werde, wenn Menschen mit Behinderung auf Einschränkungen stießen. „Sie geraten so immer wieder in eine Bittstellerrolle, dabei geht es darum, ihre Menschen- und Bürgerrechte zu gewährleisten“, sagt Bentele. Das Recht auf politische Teilhabe ist eines davon. Bei der Umsetzung gibt es in Deutschland allerdings noch viele Baustellen – auch im politischen Betrieb selbst, wie die Behindertenbeauftragte immer mal wieder „mit Verwunderung feststellen muss“.

Gerade erst sah sie sich gezwungen, an Bundestagspräsident Norbert Lammert zu schreiben, weil seine Verwaltung es ablehnt, für die vier öffentlichen Sitzungen des Petitionsausschusses grundsätzlich einen Gebärdendolmetscher zur Verfügung zu stellen. Argumentiert werde mit den Kosten, sagt Bentele. „In unserem Land sollte die Beteiligung der Bürger am politischen Prozess aber nicht an finanziellen Fragen scheitern.“

Immerhin sollen künftig Kerndebatten und Sondersitzungen des Bundestages, die im Fernsehen übertragen werden, in Gebärdensprache übersetzt werden. Die Informationen auf der Homepage des Bundestages sind ebenfalls in Gebärdensprache und in leichter Sprache, also in einer sprachlich vereinfachten und illustrierten Version, abrufbar.

Barrierefreier Bundestag

Natürlich sind die Bundestagsgebäude für Abgeordnete, Mitarbeiter und Besucher auch weitgehend barrierefrei zugänglich. Es gibt Rampen für Rollstuhlfahrer, Fahrstühle, in die ein Elektrorollstuhl hineinpasst, in denen die Stockwerke angesagt werden und die Tasten auch in Blindenschrift ausgezeichnet sind. Doch vieles, was in neuen Gebäuden selbstverständlich scheint, wäre ohne die Betroffenen selbst so wohl nicht umgesetzt worden. Ohne Ilja Seifert zum Beispiel. Der Rollstuhlfahrer saß bis 2013 für die Linksfraktion im Bundestag und lange auch in der Baukommission des Bundestages. „In den Bauvorschriften werden die Belange von Behinderten natürlich berücksichtigt. Dennoch wird an vieles oft einfach nicht gedacht.“ So wäre nach der Berliner Bauordnung nur jeweils eine Behindertentoilette für die Bundestagsgebäude vorgeschrieben gewesen. „Bei den großen Bauten wäre das jedoch eine Zumutung“, erklärt Seifert. Nun gibt es Behindertentoiletten auf jeder Etage. Die ursprünglich vorgesehene Treppe in der Kuppel des Reichstages konnte Seifert ebenfalls verhindern. Jetzt laufen behinderte und nicht behinderte Besucher über eine Rampe die Kuppel hinauf.

Schlechte Quote

2013 wurde Seifert nicht wieder in den Bundestag gewählt. Als Sprecher des Deutschen Behindertenrates beschäftigt ihn die Politik für und von Behinderten aber weiter. „Ich würde mir wünschen, dass Behinderte sehr viel stärker in der Politik präsent wären“, sagt er. Gemessen an ihrem Anteil in der Bevölkerung müssten mindestens 70 Behinderte im Parlament sitzen, rechnet Seifert vor, gemessen an den gesetzlichen Vorgaben für die Beschäftigung in den Betrieben sollten sie mindestens fünf Prozent der Abgeordneten stellen.

Eine Nachfrage bei den Fraktionen zeigt: Beides wird bei Weitem nicht erreicht. Mit konkreten Zahlen kann zwar keine aufwarten, denn Abgeordnete sind nicht verpflichtet, über eine Behinderung Auskunft zu geben. Zudem ist nicht jede Behinderung sichtbar und nicht jeder Betroffene benötigt Hilfestellungen. Klar ist aber: Außer Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) gibt es nur sehr wenige weitere Abgeordnete mit einem Handicap.

Ungewollter Türöffner

Schäuble, der seit einem Attentat 1990 im Rollstuhl sitzt, hat ähnlich wie Ilja Seifert viel für die Integration Behinderter in der Politik getan. In seinem Fall geschah dies allerdings eher unbeabsichtigt, denn der CDU-Minister hat sich politisch selten mit den Belangen Behinderter befasst. Seine eigene Behinderung machte er nur einmal öffentlich zum Thema. 1997 von einem Journalisten zu seinen Ambitionen interviewt, spitzte er dessen Frage provokant auf die Formel zu: „Kann ein Krüppel Kanzler werden ?“

Er wurde es bekanntlich nicht, was mit seiner Behinderung allerdings nichts zu tun hatte. Schäuble bekam aber andere hohe politische Ämter; dass er im Rollstuhl sitzt, nimmt heute kaum noch jemand wahr. „Er ist einfach ein sitzender Finanzminister“, sagt Verena Bentele. Gerade deshalb habe er viel für die Bewusstseinsbildung getan. „Man könnte sagen, er ist ein ungewollter Türöffner.“ Und Ilja Seifert, der frühere Linkspolitiker, konnte bei seinem Engagement in der Baukommission des Bundestages auf Unterstützung der Unionsfraktion rechnen. „Dort stieß ich meist sofort auf Verständnis.“ Dank Schäuble sei manches auch von vornherein selbstverständlich gewesen: das absenkbare Rednerpult im Reichstag beispielsweise.

Keine Unterstützung für Wahlkämpfer

Dass ausgerechnet in seiner Fraktion heute nur wenige behinderte Mitarbeiter beschäftigt werden und nicht einmal die gesetzlich vorgeschriebene Quote von fünf Prozent erreicht wird, ärgert Seifert. Doch auch die anderen Fraktionen erfüllen die Quote meist nur knapp. Für Abgeordnete gilt ohnehin keine Quote. Sie ist bisher auch kein Thema. Erklärungen für die Tatsache, dass Behinderte im Bundestag unterrepräsentiert sind, gibt es dagegen schon. „Als Abgeordneter des Bundestages hat man gute Arbeitsbedingungen“, sagt Ilja Seifert, „das Problem ist, es überhaupt dorthin zu schaffen.“ Denn während Abgeordnete beispielsweise einen zusätzlichen Assistenten finanziert bekommen, sind Wahlkämpfer auf sich gestellt. Sie erhalten weder einen Assistenten noch technische Hilfsmittel. Dafür muss ein Kandidat selbst oder seine Partei aufkommen. „Das politische Engagement eines Menschen mit Behinderung sollte doch nicht davon abhängen, ob sich eine Partei einen behinderten Kandidaten leisten kann“, kritisiert Verena Bentele. Auch über diesen Zustand kann sich die Beauftragte wohl nur wundern.

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