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Lärm: Soundcheck Berlin

Krach kann krank machen. Doch nicht alles, was laut ist, muss auch Lärm sein, wissen Psychoakustiker. Wir haben uns ein Wochenende lang in Berlin umgehört.

Lärm ist die Pein der Moderne. Schon im Jahr 1910 - im Angesicht des zunehmenden Industrielärms - prophezeite der Mikrobiologe Robert Koch: »Eines Tages wird der Mensch den Lärm ebenso unerbittlich bekämpfen müssen wie die Cholera und die Pest.« Nicht zufällig wurden drei Jahre vor Kochs Klage die Ohropax-Stöpsel erfunden - in Berlin.

Und die Stadt wurde nicht leiser - im Gegenteil. Bauarbeiter reißen Straßen auf, LKWs rumpeln durch Schlaglöcher, der Nachbar dreht seine Anlage auf apokalyptische Lautstärke. Allein 300.000 Menschen leiden in der Hauptstadt unter gesundheitsschädigendem Verkehrslärm.

Wie Abgase und Feinstaub zählt Lärm zu den größten Umweltbelastungen der Großstadt. Krach macht krank - physisch und psychisch - und ist deshalb in den Fokus von Medizin und Gesundheitsbehörden gerückt. Bis zum Jahr 2030 will der Senat die Lärmbelastung auf ein verträgliches Maß reduzieren. Lärm wird statistisch berechnet und kartiert - so sieht es die EU-Umgebungslärmrichtlinie vor. Dazu orientiert sich der Gesetzgeber an der Lautstärke, gemessen in Dezibel.

Doch Lärm ist mehr als nur Lautstärke. Eine tickende Uhr oder ein tropfender Wasserhahn können uns den Schlaf rauben, obwohl sie nur wenige Dezibel laut sind. Der Gedanke an Fingernägel, die über eine Schultafel kratzen, lässt viele Menschen schaudern.

Einen Lärmpegel, der wie die Lautstärke in Dezibel messbar wäre, gibt es also nicht. Aber was ist Krach dann? »Lärm ist ein unerwünschter, als störend empfundener Schall, der psychische oder physische Reaktionen hervorruft«, sagt Brigitte Schulte-Fortkamp, die als Psychoakustikerin an der TU Berlin die Wirkungen von Geräuschen lehrt und erforscht.

»Die Psychoakustik beschreibt Geräusche mit Indikatoren wie Lautheit, Rauigkeit, Schärfe oder Tonhaltigkeit«, sagt Schulte-Fortkamp. Das psychoakustische Vokabular umfasst nicht nur Adjektive wie laut und leise, sondern auch Gegensatzpaare wie stumpf und scharf, rau und glatt oder hässlich und schön, um zu erfahren, wie Menschen Geräusche wahrnehmen.

Ob ein Klang als angenehm oder störend empfunden wird, ist subjektiv und situationsabhängig. So kann fast jedes Geräusch zu Lärm werden, aber nicht alles, was laut ist, muss auch stören. Wir wollten wissen, wann Berliner unter den akustischen Ausdünstungen der Hauptstadt leiden und wann wir die Sinfonie der Metropole lieben. Mit einem Schalldruckmessgerät und einem gespitzten Ohr haben wir uns ein Wochenende lang in der Stadt umgehört.

Allen Lärms Anfang ist die Geburt, das erste Lebenszeichen oft ein Schrei. »Die Zeiten, als man dem Neugeborenen auf den Hintern klopfte, sind allerdings vorbei«, sagt Dietmar Schlembach, Chefarzt der Geburtsmedizin am Vivantes Klinikum Neukölln. Hier im Berliner Süden wurden im Jahr 2014 rund 3900 Babys entbunden - nicht selten von einer beachtlichen Geräuschkulisse begleitet. Schreien lässt entbindende Frauen den Wehenschmerz oft besser aushalten. Und je intensiver die Wehe, desto höher die Lautstärke. Dabei dürften 85 Dezibel schnell erreicht werden - ab dieser Lautstärke schreibt der Arbeitsschutz eigentlich Gehörschützer vor. Aber sollen Ärzte und Schwestern deshalb mit Kopfhörern im Kreißsaal herumlaufen? »Das geht gar nicht«, sagt Schlembach lachend. Denn der Chefarzt und sein Team müssen ganz Ohr für die werdende Mutter sein, gebe es doch zwei Arten des Schreiens: Beim »produktiven Schreien« würden die Frauen zwar bewusst sehr laut werden, doch die Geburt geht dabei auch voran. »Mit dieser Lautstärke kann das Personal ganz gut umgehen«, sagt der Chefarzt. Unangenehm werde sie erst, wenn die Geburtsmediziner nicht helfen können. Denn manchmal würden Frauen auch aus purem Schmerz schreien, ohne dass das Ungeborene sich auch nur einen Millimeter bewegt. »Solche Situationen lassen sich hingegen manchmal schwer aushalten«, sagt Schlembach.

Ortswechsel. Berlin Mitte, Leipziger Straße, Freitagmittag 13.30 Uhr: Der Straßenverkehr dröhnt von allen Seiten. 84 Dezibel, gemessen auf der Mittelinsel eines Fußgängerüberwegs. Eine Kakophonie aus knatternden Motoren, Abrollgeräuschen, quietschenden Bremsen und nervösem Hupen. Der Straßenverkehr ist in Berlin immer noch Krachmacher Nummer eins. 245.000 Menschen sind in ihren Wohnungen tagsüber einem krank machenden Schallpegel von mindestens 65 Dezibel ausgesetzt. Nachts liegt, um den empfindlichen Schlaf zu schützen, der »gesundheitsrelevante Schwellenwert« bei 55 Dezibel, der sogar 300.000 Menschen betrifft.

Diese Werte klingen nicht nach einem großen Unterschied, doch es ist einer. Die Dezibel-Messskala verläuft nicht linear, sondern logarithmisch. Eine Steigerung um zehn Dezibel wird als eine Verdopplung der Lautstärke wahrgenommen. Eine Armbanduhr tickt mit etwa zehn Dezibel. Flüstern bei 20 Dezibel ist also doppelt so laut, ein ruhiges Zimmer mit 30 Dezibel aber schon vier Mal lauter als die Uhr. Und ein 120 Dezibel lautes Düsentriebwerk somit 2048 Mal lauter als die Uhr am Handgelenk.

Ab 45 Dezibel ist für Schlafforscher messbar, dass sich die Schlafstadien ändern. Bei Werten ab 60 Dezibel leidet die Schlafqualität. Auf Dauer drohen psychosomatische Folgen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Migräne, Angststörungen oder Depressionen.

»Für die Bewertung von Lärm ist die Kontrolle über die Schallquelle entscheidend«, sagt Schulte-Fortkamp. Lärm, dem wir uns bewusst aussetzen, erscheint beherrschbar und dadurch erträglicher. Zum Problem wird die Lautstärke, wenn wir uns ihr nicht mehr entziehen können. Wie dem täglichen Straßenlärm zum Beispiel.

Die Blechlawine, die sich durch die Leipziger Straße wälzt, kommt plötzlich zum Stehen. Martinshorn und Blaulicht am Horizont zwingen den Verkehr zum Innehalten. Eine Demonstration bahnt sich den Weg durch die Innenstadt. Sie tragen 15 Pappsärge mit sich - für 15 Flüchtlinge, die am 6. Februar 2014 bei dem Versuch starben, die Grenze der in Marokko liegenden spanischen Exklave Ceuta zu überwinden. Die Demonstranten trommeln, trällern und skandieren lautstark ihre Parolen. »Stop war on migrants«, fordert ein Redner über Mikrofon und vom Lautsprecher verstärkt. Mitten im Demonstrationszug stehend, registriert der Schallpegelmesser 102,5 Dezibel. Lärm zeigt eben auch: Wir sind da! Gehört wird nur, wer seine Stimme erhebt. Und das tun von Jahr zu Jahr mehr Menschen. 2014 brach Berlin mit 4950 Demos - also im Schnitt 13,5 Demos am Tag - erneut den Rekord des Vorjahres.

Lärm leitet sich von Alarm ab, das auf das italienische Wort »all'arme« zurückgeht, also »zu den Waffen«. Krach alarmiert, putscht auf. Der Körper schüttet die Stresshormone Adrenalin und Cortisol aus, die uns leistungsfähiger machen. Lärm kann wie eine Droge berauschen. Im Krieg schlugen die Soldaten mit ihren Schwertern auf ihre Schilde, bevor sie sich schreiend auf den Feind stürzten. Das kaschierte die eigene Angst. Lärm kann aber auch einschüchtern. Der Nazi-Sturzkampfbomber trug eine Sirene mit sich, deren Geheul nur eine Funktion hatte - den Gegner zu demoralisieren. Psychoakustische Kriegsführung.

Zurück zum Lärm der Gegenwart. Zivilisierter und friedfertiger geht es am Freitagabend beim Basketballspiel Alba Berlin gegen Panathinaikos Athen zu. Zur Halbzeit scheint das Spiel bereits entschieden: Alba liegt deutlich vorn. Doch dann wendet sich das Blatt. Die Berliner vergeigen mehrere Angriffe und Athen versenkt einen Ball nach dem anderen im gegnerischen Korb. Noch 30 Sekunden Spielzeit. Panathinaikos führt mit 62 zu 59 Punkten. »Jetzt macht mal richtig Krach«, feuert der Kommentator die 10.981 Besucher an. Die Fans von Alba und Athen stehen auf den Sitzen, klatschen, trommeln, tröten. Der Schalldruckmesser zeigt 107,5 Dezibel. Der Stadioneffekt schlägt voll zu, selbst Sportmuffel könnten sich der Spannung, der aufgeheizten Atmosphäre nicht entziehen. Lärm, der verbindet.

Manchmal auf eine wesentlich engere Art, als einem lieb ist. Zum Beispiel, wenn man Ohrenzeuge vom Sex der Nachbarn morgens um halb drei wird. Primatenforscher haben herausgefunden, dass die lustvollen Balzlaute einiger Affenarten weitere Liebhaber anlocken sollen, um so die genetische Variabilität zu sichern. Nun sind wir allerdings keine Affen, wir haben uns ja selbst domestiziert. Aber seien wir ehrlich: Ein wenig Neid schwingt schon mit, wenn wir uns über das nächtliche Vergnügen der Nachbarn ärgern. Des einen Lust, des anderen Lärm. Da helfen nur Ohrstöpsel. »Lärm ist das Geräusch der Anderen«, bemerkte Kurt Tucholski. Müssen es denn immer die anderen sein, die lärmen?

Samstag, 14 Uhr, Reinickendorf. Der Kurt-Schumacher-Platz dürfte der vielleicht lauteste Ort im Berliner Norden sein - er liegt in der Einflugschneise des Flughafens Tegel. Flugzeuge donnern mit 90,8 Dezibel über die Köpfe hinweg, die ausgefahrenen Fahrwerke scheinen zum Greifen nahe. Zur Zeit der sowjetischen Blockade West-Berlins 1948 mag der Fluglärm als Wohlklang empfunden worden sein. Die Luftbrücke sicherte das Überleben der Eingeschlossenen. Heute ist er wieder das, was er ist - Krach.

»Lärmbelastung ist natürlich auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit«, sagt Schulte-Fortkamp. Nicht zufällig belegen Reinickendorfer Ortsteile wie Tegel oder das Afrikanische Viertel die letzten Plätze im Sozialstrukturatlas. Denn hier sind die Mieten günstig. Lärm betrifft vor allem einkommensschwache Menschen. Sie müssen die einfachen und deshalb günstigen Wohnungen beziehen - gleich neben dem Bürgersteig im Parterre, am S-Bahn-Ring oder wie hier in der Einflugschneise eines Flughafens.

Totenstille herrscht hingegen in der Greifswalder Straße 224, Prenzlauer Berg. Hier lärmte einst der Knaak Klub. Wohnungseigentümer einer neu gebauten Wohnanlage klagten gegen den seit Jahren ansässigen Jugendclub. Mit Erfolg, heute spielt die Musik woanders.

Schon Theodor Lessing forderte in »Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens« das »zarteste wichtigste Organ, das Ohr, vor dem schlechten, verfälschenden, den Geschmack verpöbelnden Musiklärm« zu schützen. Für den Kulturphilosophen war Lärm ein Bildungs- und Kulturproblem. Der Bildungsbürger, der selbst nicht an den krachenden Maschinen malochen musste, ärgert sich über das lärmende Proletariat. Während einkommensschwache Bewohner Lärm oft erdulden müssen - ihnen fehlt meist Zeit und Geld, um sich dem Krach zu entziehen - zeigen sich Wohlhabendere protest-, beschwerde- und klagefreudiger. Gerichtsverfahren wegen lärmender Musikclubs, Sporthallen und selbst Kindergärten machen immer wieder Schlagzeilen. Der Berliner Stadtsoziologe André Holm formuliert es so: Es gehe nicht nur um den Wunsch nach ein bisschen mehr Ruhe, sondern um die Durchsetzung »letztlich anti-urbaner Lebensvorstellungen einer Eigenheimidylle in Prenzlauer Berg«. Kultur und Vielfalt ja - aber bitte nicht vor der eigenen Haustür. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!

Samstagnacht. Weniger gut klappt das mit der Ruhe in Friedrichshain-Kreuzberg. Berlins Partyachse. »Es gibt das Fernsehen, es gibt Sex und Kokain. Es gibt Tabletten, Alkohol und Nikotin. Aber nur eins, nach dem ich wirklich süchtig bin - ohoho. Gib mir den Lärm, gib mir das Licht. Alles andere schert mich nicht«, singt die Band Extrabreit. Krach kann nerven, Krach kann krank machen. Der Mensch empfindet aber auch Lust am Lärmen. Und einige Institutionen der Berliner Technoszene sind geradezu berüchtigt für ihren Schallpegel - Lärm sozusagen die Einstiegsdroge eines gelungenen Abends.

Die kahlen Gänge aus grauem unverputztem Beton verbreiten den Charme eines Bunkers. Licht flackert, der Bass wummert. Das Schallpegelmessgerät zeigt 118 Dezibel an. Lärm kann auch richtig schmerzen. Je nach Frequenz des Geräuschs liegt die Schmerzschwelle zwischen 100 und 110 Dezibel. In der Hörschnecke wachsen feine Härchen, die sogenannten Zilien. Sie fangen die Tonschwingungen auf und übertragen sie an den Hörnerv. Ab 80 Dezibel, gemessen am Ohr, wird es für sie gefährlich. Mikroskopisch vergrößerte Aufnahmen beschädigter Zilien zeigen ein Bild, das an die Verwüstungen eines Tornados erinnert. Wie umgeblasen liegen die Härchen geknickt am Boden - irreparabel beschädigt.

Sonntagmorgen im Bett. Stille. Der Schallpegel liegt bei ruhigen 29,8 Dezibel. Eine Taube gurrt, eine Krähe krächzt. Nur das feine Fiepen im Ohr trübt ein wenig die seelige Ruhe.

Der Avantgarde-Musiker John Cage ließ sich 1951 für sein Stück »4'33« von einem sogenannten schalltoten Raum inspirieren. Dessen Wände sind so konstruiert, dass sie jeden Ton schlucken, ohne ein Echo zurückzuwerfen. Psychologische Experimente zeigen, dass sich viele Menschen in der Geräuschlosigkeit beklommen und ängstlich fühlen, die Stille als Isolation wahrgenehmen. Bei »4'33« betritt ein Orchester die Bühne und dann passiert vier Minuten, 33 Sekunden lang - nichts. Nur Stille und ein Husten im Publikum sind zu hören. Könnten wir uns einen Soundtrack für Berlin aussuchen - »4'33« wäre es nicht, oder?

Das Magazin für Medizin und Gesundheit in Berlin: "Tagesspiegel Gesund - Berlins beste Ärzte für Hören und Sehen".

Weitere Themen der Ausgabe: Wahrheit oder Mythos. Was dem Augenlicht hilft und schadet; Sehen. Wie unser Auge die Welt des Lichts einfängt; Schielen. Wie der kleine Ben in der Sehschule das richtige Sehen lernt. Augenlaser. Wie Lichtblitze eine neue Linse ins Auge schleifen; Grauer Star. Mit der neuen Linse gegen die trübe Sicht. Beratung Sehhilfen. Gehärtete oder dünne Brillengläser? Ortho-K- oder Multifokallinse? Worauf man beim Kauf achten sollte; Technikneuheiten. Netzhautchip und Intraokularlinsen - Innovationen in der Augenmedizin; Hören. Wie das Ohr Luftschwingungen in Töne verwandelt; Ohrenpflege. Die endgültige Wahrheit über Wattestäbchen; Tinnitus. Wenn das Klingeln im Ohr nicht mehr verschwinden will; Beratung Hörgeräte; Außerdem: Kliniken und Arztpraxen im Vergleich. "Tagesspiegel Gesund" - Jetzt bei uns im Shop

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