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Brandenburg: „Der Osten ist keine tote Zone“

Rainer Eppelmann und Richard Schröder widersprechen Schönbohms Proletarisierungs-These

Potsdam - Ehemalige DDR-Bürgerrechtler haben der These von der angeblichen Verrohung der ostdeutschen Gesellschaft als Spätfolge der SED-Diktatur entschieden widersprochen. „Gleichgültigkeit, Verwahrlosung, Gewaltbereitschaft sind kein spezifisches Ostproblem“, sagt etwa der Mitgründer der SPD in der DDR und heutige Bundestagsabgeordnete Stefan Hilsberg. Es gebe auch in anderen Teilen Deutschlands „heftige Aggressionspotenziale“ – insbesondere dort, wo brennende soziale Probleme existierten. Auch der einstige Pfarrer und CDU-Bundestagsabgeordnete Rainer Eppelmann findet: „Wir müssen diese Debatte für ganz Deutschland führen.“ Es gehe um die Grundwerte der Gesellschaft, die sich im Osten wie im Westen verschoben hätten. „Wenn in der S-Bahn einer westdeutschen Großstadt geprügelt wird, geht auch keiner dazwischen“, sagt Eppelmann. Man könne da von einer „deutsch-deutschen Annäherung“ sprechen.

Der Theologie-Professor an der Berliner Humboldt-Universität Richard Schröder beklagt, dass die durch die provokante Proletarisierungs-These von CDU- Landeschef Jörg Schönbohm ausgelöste Debatte gegenüber den Ostdeutschen „denunziatorisch geführt“ werde: „Die Sicht von West nach Ost ist dadurch geprägt, dass man nur Unheimliches erwartet.“ Man dürfe die neuen Länder nicht als „tote Zonen“ ohne bürgerschaftliches Engagement betrachten, weil dies nicht der Realität entspreche. Auch der Theologe Hans Misselwitz warnt vor alten Klischees und pauschalen Urteilen. Die ostdeutsche Gesellschaft sei als Folge der Wende stärker differenziert als die westdeutsche. „Es gibt nicht mehr ,die‘ Ostdeutschen.“

Dennoch sind sich die ehemaligen Bürgerrechtler einig, dass es in Ostdeutschland spezifische Probleme gibt, „die offen und tabulos diskutiert werden müssen“, wie Hilsberg sagt. So lasse sich nicht bestreiten, dass die Gesellschaft im Osten „durch die SED deformiert wurde“. Man könne das zum Beispiel daran sehen, dass in Brandenburg „traditionelle Berufsstände wie Unternehmer fehlen“. In Sachsen hätten sich mehr alteingesessene Unternehmer über die SED-Zeiten gerettet. „Deshalb ist dieses Land heute wirtschaftlich erfolgreicher als Brandenburg“, sagt Hilsberg. In der Mark fehle auch nicht erst seit DDR-Zeiten, sondern schon seit Jahrhunderten eine selbstständige Bauernschaft: „Der Großgrundbesitzer wurde durch den LPG-Vorsitzenden abgelöst.“ All das sei nicht folgenlos geblieben, so der SPD-Bundestagsabgeordnete.

Natürlich gebe es im Osten „noch heute wirkende geistige Deformierungen aus der SED-Zeit“, meint auch Eppelmann. Das gelte aber nicht flächendeckend, und schon gar nicht für alle Ostdeutschen. „Man muss da sehr differenzieren.“

Als spezifisches ostdeutsches Problem benennen die Bürgerrechtler auch die jahrzehntelange Abwanderung von Leistungseliten, von der der Westen immer profitiert habe. Richard Schröder weist darauf hin, dass dieser Aderlass nicht erst 1990 begonnen habe, sondern schon 1945. Ostdeutschland habe rund drei Millionen Menschen verloren, darunter oft gerade die mobilen und kreativen. Die Folgen seien heute zu spüren. Gemessen daran könne man durchaus zu dem Schluss kommen, dass Demokratie und kommunale Selbstverwaltung im Osten erstaunlich gut funktionieren, meint Schröder.

Hilsberg widerspricht allerdings vehement der von einigen Wissenschaftlern vertretenen These, dass die anhaltende Abwanderung junger Leistungsträger zwangsläufig zur „geistigen Verarmung“ Brandenburgs führe. „Zwar sind unter denen, die aus beruflichen Gründen weggehen, viele, die zur Leistungselite gehören könnten.“ Doch sei daraus nicht abzuleiten, dass es keine Elite gebe und das Land, wie von manchen behauptet, „verblöde“. Hilsberg betont, dass die vorhandene und sich auch neu bildende Elite eine besondere Verantwortung trage, um mögliche Verwahrlosungstendenzen zu überwinden. „Man muss etwas aufbauen mit den Menschen, die da sind. Man darf keine Ressentiments gegen Unternehmer und Leistungsträger pflegen.“

Einig sind sich alle, dass pauschale Verurteilungen nur schaden – auch, weil sie ostdeutsche Abwehrreflexe auslösen. Die Debatte über einen geistigen und wirtschaftlichen Aufbruch Ostdeutschlands müsse „modern und aufgeklärt“ geführt werden, fordert Hilsberg – „ohne Rückgriff auf ideologische Mottenkisten“.

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