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Brandenburg: Der Sitzenbleiber

Ob ihm sein Hintern noch wehtue? Da muss Wilko Jäschke erst einmal in sich gehen.

Ob ihm sein Hintern noch wehtue? Da muss Wilko Jäschke erst einmal in sich gehen. "Nö", sagt er dann, "es ist eher ein taubes Gefühl." Am heutigen Montagmittag dürfte er den Weltrekord knacken, könnte als strahlender Sieger der 5. Pfahlsitz-WM von seinem zweieinhalb Meter hohen Pfahl Nummer fünf klettern und seine Freundin in die Arme schließen, die ihm - soweit er weiß - über all die 167 Tage treu geblieben ist. Glücklich könnte er den Heidepark Soltau in Niedersachsen verlassen und sich auf den Heimweg nach Jüterbog machen. Wenn nur dieser Schwabe auf Pfahl neun nicht wäre.

"Der hat das Pfahlsitzen versaut", sagt Jäschke in sein Pfahltelefon. Er muss ein bisschen leiser reden, denn der Schwabe sitzt nur gut zwei Meter hinter ihm. Es ist Roland Maier, der sich schon im Sommer unbeliebt gemacht hat bei Wilko Jäschke und bei Cordula Straub, die seit dem 15. Mai auf Pfahl drei ausharrt: Wenn die beiden abends plauderten, hat er sich über den Krach beschwert. Wenn sie still waren, ist er trotzdem nicht eingeschlafen. Vor allem will der Schwabe, wenn sie die Weltrekordlerin des Vorjahres überboten haben, nicht mit vom Pfahl steigen. Nun fürchten Cordula und Wilko, dass er einfach einen Tag nach ihnen herunterklettern und die 35 000 Mark Preisgeld allein kassieren könnte. Dagegen hilft nur sitzen bleiben. Notfalls auch über den 4. November hinaus. Danach macht der Heidepark eigentlich Winterpause. Zumindest ist es so vorgesehen.

Heidepark-Sprecher Klaus Müller versichert: "Die dürfen, solange sie wollen." Zumal schon am 23. März die neue Saison beginnt, und zu Nikolaus und Weihnachten öffnet der Park auch. Die Kandidaten seien "konditionell top drauf", sagt Müller, der auch schon bemerkt hat, "dass der Wilko und die Cordula Straub gut miteinander klönen können." Auch kontrollieren Ärzte regelmäßig den Zustand der drei Pfahlsitzer. Den körperlichen zumindest.

"Momentchen, jetzt kommt gerade der Onkel Doktor", sagt der 30-jährige Jäschke in seinen Pfahltelefonhörer. "Tach, Herr Doktor Schilling", ist zu hören. Dann ist er wieder da. "Es kann sein, dass er sich Windeln umgemacht hat", sagt Jäschke über den Schwaben, während ihm Doktor Schilling den Blutdruck misst. Es sei schon verdächtig, dass der Schwabe nur zwei-, dreimal täglich vom Pfahl steige. Erlaubt wäre es alle zwei Stunden und dann jeweils für zehn Minuten; ungenutzte Pausen werden gutgeschrieben. Jäschke radelt, rennt oder legt die Beine hoch, sobald Pause ist. Abends, wenn die Parkbesucher verschwunden sind, holt er Hanteln und Expander aus dem Fach unter seinem 40 mal 60 Zentimeter großen Sitzbrett. Doktor Schilling zieht zufrieden weiter. Zum Schwaben. Der hat bisher ebenso wenig geschwächelt wie Jäschke. Nur Cordula Straub musste eine Zahnbehandlung über sich ergehen lassen. Da wurde ihr Pfahl zum Marterpfahl.

Wie viel er mittlerweile wiegt, weiß Jäschke nicht. Aber er ahnt Schlimmes. Möhrensuppe, Bohnensuppe, Eintopf, Seelachs, Gulasch. Das Essen im Heidepark ist nicht ungesund. Aber gut und reichlich. Die übrige Zeit verbringe er mit Telefonieren, Musik hören, Fernsehen und Zeitung lesen, sagt der gelernte Maurer. Der Park-Sprecher hatte noch "richtig hochtrabende Bücher" genannt, aber die erwähnt Jäschke nicht. Er freut sich über die ausgelesene BILD-Zeitung, die ihm ein Parkmitarbeiter täglich bringe. "Da muss ich mich mal erkenntlich zeigen." Vielleicht mit Zigaretten. Persönlichere Geschenke sind binnen zehn Minuten auch schwer aufzutreiben. Und wie streng die Pausenzeiten geregelt sind, musste gleich am ersten Tag einer der ursprünglich neun Teilnehmer erfahren: Nur ein paar Sekunden verspätet kehrte er zum Pfahl zurück - zack, war er draußen. Nach zwei Stunden. Jäschke hat bald viertausend.

Es ist nicht ganz klar, ob diese Zeit oder die BILD-Zeitung oder die Aussicht vom Pfahl die Wahrnehmung verändert: Jäschke glaubt zu wissen, dass "ganz Berlin und Brandenburg zu mir hält. Da freut man sich natürlich. Es ist ja auch eine hohe Leistung, die man hier vollbracht hat." Die nächste könnte eine Ausbildung zum Catcher sein. Vielleicht in Hannover, weil es in Jüterbog dafür keine anerkannte Stelle gibt. Aber allzu weit plant er momentan ohnehin nicht. Erst muss er mit Cordula den Schwaben überholen. Im Sitzen.

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