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Brandenburg: Die glückliche Ausnahme

Neuhausen ist ein Dorf fast ohne Nachwuchs. Trotzdem ziehen Nancy Block und Thomas Buder hier ihre Töchter auf

Von Sandra Dassler

Neuhausen - Brunhild Buder ist eine glückliche Großmutter. Eine von ganz wenigen hier in Neuhausen in der Lausitz. Die meisten Großeltern sehen ihre Enkelkinder höchstens zwei, drei Mal im Jahr. Brunhild Buder aber muss zu ihrem Enkelsohn nur 20 Kilometer nach Cottbus fahren. Und ihre beiden Enkeltöchter leben sogar nicht nur im selben Dorf, sondern sogar im selben Haus wie sie. Der Kinderwagen mit der fünf Monate alten Anabel steht oft im Flur vor ihrer Tür. Wenn die Kleine wach wird, ruft Brunhild Buder ihren Sohn oder ihre Schwiegertochter.

Thomas Buder und Nancy Block wohnen oben in einer kleinen, gemütlichen Wohnung, die ganz nach den Bedürfnissen von Anabel und ihre Schwester Lelia eingerichtet ist. Lelia ist zweieinhalb Jahre alt, und hat eine richtig große Familie – zu der auch das Pferd Betty und ihr Fohlen Maja gehören, sowie das Plüschpferd Lotti, die Henne Lotte und deren Schwestern Bommel, Grete und Berta. Lelia kann schon Hühner füttern und mit Papas Hilfe auf Betty über die Wiesen reiten. „Sie liebt die Tiere sehr“, sagt ihre Mutter.

Das ist praktisch, denn Lelia hat wenig Spielkameraden. Es gibt nur zwei Gleichaltrige in Neuhausen. Das Dorf an der Spree gehört zu den kinderärmsten in Brandenburg: Auf 384 Einwohner kommen nur 24 Mädchen und Jungen unter 15 Jahren: das sind lediglich 6,3 Prozent. In Neuhausen hat es Jahre gegeben, in denen kein einziges Kind geboren wurde: 2001 zum Beispiel, aber auch schon 1994 und 1996. „Man merkt das schon“, sagt Ortsbürgermeister Wolfgang Hübner: „Früher hat sich keiner umgedreht, wenn jemand einen Kinderwagen durchs Dorf schob. Heute freut man sich, dass es wieder Nachwuchs in Neuhausen gibt.“

Hier kennt jeder jeden. Und die Geschichten der meisten Einwohner gleichen sich. Sie haben zu DDR-Zeiten in der Landwirtschaft gearbeitet oder in den Tagebauen und Kraftwerken. „Wir waren in der Kohle“ sagen sie. Heute sind viele arbeitslos oder im Vorruhestand. Da die meisten ihre Häuschen geerbt oder abbezahlt haben, kommen sie mit dem Geld einigermaßen hin. Doch dass ihre Kinder früher oder später auf der Suche nach Ausbildungs- und Arbeitsplätzen weggezogen sind, das macht ihnen zu schaffen.

Thomas Buder hat Glück gehabt. Er bekam einen der befristeten Arbeitsplätze in der im Zuge der Hartz-Reformen eingerichteten Minijob-Zentrale in Cottbus. Früher war der 30-Jährige als Geotechniker in ganz Deutschland unterwegs – wegen der Kinder wollte er das nicht mehr. Die meisten seiner Altersgefährten leben heute in den alten Bundesländern, erzählt er: „Die kommen beim Klassentreffen mit dickem Daimler vorgefahren und erzählen von ihren Auslandsreisen.“ Thomas Buder möchte trotzdem nicht mit ihnen tauschen. „Ich finde Familie und Kinder schöner“, sagt er: „Auch wenn wir sparen und auf manches verzichten müssen.“

Seine Lebensgefährtin Nancy Block nickt. Die 24-Jährige wollte unbedingt Kinder. Arbeiten möchte sie trotzdem bald wieder. Nancy Block hat einen krisenfesten Beruf. Sie ist Heilerziehungspflegerin, und pflegebedürftige Menschen gibt es hier so viele, dass sie schon jetzt mehrere Job- Angebote hat. Aber bis zum ersten Geburtstag von Anabel möchte sie zu Hause bleiben. Dann werden beide Mädchen stundenweise in die Kita gehen.

Die Kita befindet sich ebenso wie die Grundschule im drei Kilometer entfernten Laubsdorf. Ohne Auto geht hier nichts, sagt Bürgermeister Hübner. Schulbusse gibt es nicht mehr, die Linienbusse fahren selten und sind teuer. Hübners Tochter Katrin hat in einem Schulaufsatz über Vor- und Nachteile des Dorflebens einmal ausgerechnet, dass ihre Eltern in der Woche mehr als 300 Kilometer Fahrweg in Kauf nehmen, um sie zu Freunden oder Freizeitaktivitäten zu bringen. Das allein kostet etwa 150 Euro im Monat an Benzin.

Neuhausen hatte einst einen wunderschönen Kindergarten am Waldrand. Seit mehr als zehn Jahren ist er geschlossen, das Gebäude dient jetzt als Bürgermeister-Büro. Auch der Dorfpolizist residiert hier zweimal in der Woche, und die übrigen Räume werden oft von Vereinen für Feiern gemietet. Die drei Kneipen Neuhausens sind genau wie der ehemalige Dorf-Konsum längst geschlossen.

Neben der Kita sollte eigentlich eine Skaterbahn entstehen. Die Dorfjugend – eine Clique von zehn, zwölf Mädchen und Jungen – hatte sich das gewünscht. Aber als die Gemeinde endlich das Geld und die Baugenehmigung beisammen hatte, waren die Skater nicht mehr da. Sie lernen und arbeiten inzwischen in Dresden, Berlin oder in den alten Bundesländern. Auch der einstige Jugendklub ist verwaist.

Der Neuhausener Amtsleiter Dieter Perko (CDU) kämpft seit Jahren mit den Folgen des Geburtenrückgangs: „1980 wurden in den 18 Orten des Amtes Neuhausen 130 Kinder geboren, 1994 nur noch 14. Das ist dramatisch.“ Gerade habe ihm der Präsident eines Karnevalsvereins sein Leid geklagt. Der Nachwuchs fehlt, und mit 50 Jahren geht manchem Funkenmariechen allmählich die Puste aus.

Die Buders ahnen, was auf sie zukommt, wenn ihre Töchter älter werden. Gymnasien gibt es nur in Cottbus oder Spremberg. Dann sind auch Anabel und Lelia wie alle Teenager auf die Autos der Eltern angewiesen. Aber bis dahin, sagt Thomas Buder, wachsen sie hier glücklicher auf „als in der Stadt mit ihrer Reizüberflutung und Kriminalität“. Und wer weiß – vielleicht sind die Benzinpreise dann ja nicht mehr so hoch.

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