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Brandenburg: Die offenen Wunden von Cottbus

Vor einem Jahr wurde die Leiche von Dennis in einer Tiefkühltruhe entdeckt. Jahrelang hatte niemand sein Verschwinden bemerkt

Von Sandra Dassler

Cottbus - Im Juni vergangenen Jahres schockierte schon einmal ein grausiger Fund in Brandenburg ganz Deutschland: In der Tiefkühltruhe einer Plattenbauwohnung im Cottbuser Stadtteil Sachsendorf entdeckte die Polizei die Leiche eines Jungen. Dennis B. war – so die Ermittler – offenbar bereits im Dezember 2001 gestorben, er wurde sechs Jahre alt.

Schnell erhärtete sich der Verdacht, dass die Mutter den kränkelnden Dennis über Monate, wenn nicht gar Jahre hinweg vernachlässigt hatte. Bei seinem Tod soll der Sechsjährige extrem unterernährt gewesen sein. „Wie ein Vögelchen“ habe die Leiche des Kindes ausgesehen, berichtete ein erschütterter Polizeibeamter. Um den Zustand des Jungen bei seinem Tod zu verheimlichen, hatte die heute 44-jährige Mutter die Leiche ihres Kindes mehrere Jahre in der Tiefkühltruhe der Küche versteckt. Nach ihren eigenen Aussagen hatten weder der Kindesvater noch die fünf Geschwister vom Tod des Jungen gewusst, sondern der Mutter geglaubt, dass Dennis in einem Berliner Krankenhaus sei.

Was die Öffentlichkeit ratlos machte, war nicht nur die Tatsache, dass der Vater und alle Verwandten mehrere Jahre lang nicht stutzig wurden oder Dennis besuchen wollten. Vielmehr hatten auch die Behörden blind auf das Wort der Mutter vertraut. Obwohl Dennis hätte eingeschult werden müssen, unterblieben vorschulische Untersuchung und konsequente Nachfragen nach dem Verbleib des Kindes. Die Schulleiterin hatte auch deshalb geglaubt, dass Dennis im Krankenhaus sei, weil eine Mitarbeiterin des Cottbuser Jugendamtes dies bestätigte. Aber auch diese war von der Mutter getäuscht worden und hatte keinen Verdacht geschöpft, obwohl sie die Familie betreute und regelmäßig besuchte.

Der „Fall Dennis“ wurde zum Politikum: Wie konnte es sein, dass ein Kind mitten in Deutschland verschwand und niemand etwas bemerkte? Gab es keine Schulpflicht? Hatten die Behörden versagt? Umfangreiche Untersuchungen folgten: Die Stadtverwaltung konnte kein schuldhaftes Verhalten ihrer Mitarbeiter feststellen. Anders lag der Fall bei der Schulleiterin. Sie hätte – so das brandenburgische Bildungsministerium – auf einen Nachweis des Aufenthaltsortes des Kindes bestehen müssen. Das Ministerium gab unverzüglich einen „Maßnahmeplan“ heraus, in dem alle die Einschulung betreffenden gesetzlichen Bestimmungen zusammengefasst sowie Zeitpunkte und Verantwortlichkeiten benannt wurden. Außerdem sollen in einem neuen Schulgesetz die Zwangsmaßnahmen gegen Eltern verschärft werden, die sich weigern, ihre Kinder zur Vorschul-Untersuchung zu bringen. Das Gesetz wird voraussichtlich 2006 verabschiedet.

Die Staatsanwaltschaft hat kürzlich Anklage gegen die Eltern von Dennis erhoben – wegen Totschlags und Misshandlung von Schutzbefohlenen. Der Prozess soll noch in diesem Jahr beginnen.

Der Leichenfund von Brieskow-Finkenheerd hat aber in Cottbus schon jetzt wieder die Wunden aufgerissen. „Auch wenn wir im Fall Dennis unseren Mitarbeitern nichts vorzuwerfen hatten, tut es uns noch immer sehr weh, dass wir den Tod des Jungen nicht verhindern konnten“, sagte gestern die Cottbuser Oberbürgermeisterin Karin Rätzel. Und appellierte an alle Bürger, nicht wegzusehen, wenn Kinder vernachlässigt würden.

Der Sprecher des Bildungsministeriums hat sich gerade auf Anfrage einer Zeitung beim Cottbuser Schulamt erkundigt, ob alle Kinder, die am kommenden Montag eingeschult werden sollen, bei der ärztlichen Untersuchung waren. Sie waren.

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