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Brandenburg: Eine fast normale Familie

Ein Wohnprojekt im havelländischen Friesack hilft geistig behinderten Frauen dabei, gute Mütter zu sein

Friesack - Mit treuer Regelmäßigkeit ruft Urban aus Ägypten an. Immer freitagabends klingelt Katrins Handy. „Wie geht es Moni?“, will der Exfreund und Vater der vierjährigen Tochter wissen. „Gut“, antwortet Katrin. Sie ist keine Frau großer Worte. „Wo seid ihr?“, fragt Urban. „Das weißt du doch, zu Hause.“

Zu Hause, das ist für die geistig behinderte Frau das Familienprojekt der Arbeiterwohlfahrt im havelländischen Friesack westlich von Berlin. Seit drei Jahren lebt Katrin dort. Im Familienprojekt kann sie sein, was sie von Herzen sein möchte: Mutter. Dass eine Frau wie Katrin ihr Kind selbst großzieht, ist nicht selbstverständlich. Nach Schätzungen von Experten gibt es in Deutschland einige Tausend geistig behinderte Eltern und die meisten leben in Behindertenwohnheimen. Mehr als die Hälfte ihrer Kinder werden adoptiert, wachsen in Pflegefamilien auf oder bei Verwandten. Katrin musste sich nicht von ihrem Baby trennen. Die 23-Jährige hat einen der begehrten Plätze im Familienprojekt bekommen. Ihre Nachbarn sind zwei allein erziehende Mütter und eine dreiköpfige Familie. Sechs Betreuerinnen, zwei Praktikantinnen und ein Schüler im Freiwilligen Sozialen Jahr unterstützen die behinderten Eltern.

Die Bedingungen sind hervorragend. In dem einstigen Ambulatorium am Rande der Stadt gibt es nach einem Umbau vier Wohnungen, dazu ein großes Spielzimmer, in dem am Mittwoch alle gemeinsam zu Abend essen. Am Sonnabend treffen sich die Bewohner dort zum Mittagessen, am Sonntag zum Frühstück. Katrin lebt im Hochparterre: zwei Zimmer, Küche, Bad. Es ist hell, freundlich und ein wenig verkramt. 62,24 Euro kostet Katrins Platz täglich, der ihrer Tochter 105,37 Euro. Die Kosten teilen sich Jugend- und Sozialamt.

Moni schmiegt sich gern an ihre stille Mama. Die zwei lieben sich. Intelligenzminderung, sagen die Experten, bedeutet keine Einschränkung der Emotionalität. Aber wie weit trägt die Liebe? Katrin kann vieles, aber nicht alles. Sie kann mit dem Zug allein nach Berlin fahren und einkaufen gehen. Wenn Moni jedoch bockig die Mütze vom Kopf reißt und in den Schneematsch tritt, müssen die Betreuer Katrin die Grenzen zeigen und ihr dabei helfen, die Situation richtig einzuschätzen.

Aber Moni braucht nicht nur Liebe. Sie braucht Antworten auf ihre Fragen und Anregungen für ihre Entwicklung. Tatsächlich verbringt sie den größten Teil des Tages wie jedes andere Kind: Nach dem Frühstück geht Moni in die Kita. Sie besucht die Frühförderung, geht zur Logopädie und zur Ergotherapie. Wenn Katrin von der Arbeit in der Werkstatt heimkommt, wartet der Haushalt. In der Küche hängt ein Plan, der die anfallenden Arbeiten auf die ganze Woche verteilt. Katrin hat ihn selbst geschrieben, denn sie ist im Familienprojekt die Einzige, die das kann. Den anderen Frauen zeigen Fotografien, was wann zu tun ist.

Kerstin war die erste geistig behinderte Mutter, die ins Familienprojekt zog. Sie war auch eine der Ersten, die die stationäre Betreuung verließ. Nun lebt sie seit einem Jahr im ambulanten Bereich – „draußen“, wie sie es nennt. Sie meint damit ihre Wohnung im Erdgeschoss, die man über einen separaten Eingang an der Hofseite erreicht. „Draußen“ bedeutet auch weniger Betreuung. Und darauf ist Kerstin stolz. Nicht rund um die Uhr, sondern werktags drei Stunden stehen ihr nun zu. Am Wochenende ist sie auf sich gestellt.

„Hier will ich leben, bis ich alt und grau bin“, sagt Kerstin. Das klingt nach Erfolg. Aber Kerstins Schritt nach „draußen“ war nicht so unproblematisch, wie sie gern erzählt. Sie trennte sich von ihrem Mann. Das hob Kerstins Welt aus den Angeln. „Wir haben wieder von vorn angefangen“, sagt die Betreuerin Annika Gantikow. Wie weggewischt war all das, was Kerstin gelernt hatte: Die Betreuerinnen mussten sie ans Wäschewaschen erinnern und daran, die Kinder zum Zähneputzen zu schicken. Zudem war Jessica, die Erstklässlerin, der Mutter zusehends überlegen. Der kleinen Tochter Sarah attestierten die Ärzte eine geistige Behinderung. Hinzu kam der Wechsel der persönlichen Betreuerin. „Manchmal müssen sich eine Bewohnerin und ihre Assistentin trennen“, sagt Annika Gantikow. Etwa, wenn eine der Frauen zu sehr auf ihre Betreuerin fixiert ist und die hart erkämpfte Selbstständigkeit preisgibt. Die Frauen merken, dass sie Defizite haben. Wenn Kerstin über nicht behinderte Menschen spricht, redet sie von den „Normalen“. „Ich bin anders, weil mir ein Stück im Kopf fehlt und ich deshalb einige Dinge nicht so kann wie Normale.“ Die 34-Jährige wollte verstehen, was sie von anderen unterscheidet – und hat diese Erklärung angenommen.

Kerstin und Katrin sind an ihrer Erziehungsaufgabe gewachsen. Aber werden sie jemals das normale Leben leben? „Die Frauen werden immer Hilfe brauchen“, sagt Annika Gantikow. „Wir helfen ihnen, so weit wie möglich zu kommen.“ An der Wand hinter ihr hängt eine Postkarte. Darauf steht: „Um klar zu sehen, genügt oft schon der Wechsel der Blickrichtung.“

Nadine Fabian

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