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Brandenburg: Ethik kommt – und dann?

Es besteht die Gefahr, dass tausende Schüler den Religionsunterricht verlassen Von Susanne Vieth-Entus

Sokrates, Luther, Gandhi, Jesus, Mohammed, Plato, Kant, Adam und Eva.

Toleranz, Glaube, Brüderlichkeit, Hoffnung, Freiheit, Verantwortung.

Viel, worüber zu reden wäre. Viel, worüber immer seltener geredet wird in Berlins Schulen. Das soll jetzt anders werden: Wenn alles glatt geht, wird das Abgeordnetenhaus am heutigen Tag eine historische Entscheidung fällen und ein verpflichtendes Fach zur Wertevermittlung einführen. Es soll Ethik heißen und in Klasse 7 bis 10 den Bogen schlagen von den Anfängen der Philosophie bis zum Kopftuchstreit. Ein langer Weg geht damit – vorläufig – zu Ende. Er begann 1948 mit dem Grundgesetz, das es (West-)Berlin und Bremen im Unterschied zu den anderen westdeutschen Ländern erlaubte, Religion nicht als ordentliches staatliches Schulfach einzuführen. Stattdessen konnte man freiwillig den Unterricht der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften wählen. Und man tat es.

58 Jahre später hat sich die Situation grundlegend verändert. Nur noch jeder vierte Schüler ab Klasse 7 besucht diesen freiwilligen Unterricht. Anders ausgedrückt: 126 000 von 170 000 Oberschülern erfahren nichts Zusammenhängendes mehr über das, was die Welt im Innersten zusammenhält oder zumindest darüber, was sie zusammenhalten könnte.

Der evangelische und katholische Religionsunterricht kann nicht mehr genügend Schüler in einer Stadt erreichen, deren eine Hälfte 40 Jahre lang auf Atheismus getrimmt wurde und deren andere Hälfte zu einem großen Teil von Muslimen bewohnt wird. In Marzahn und Kreuzberg wählen nur ein paar hundert Oberschüler christlichen Religionsunterricht. Islamischer Unterricht wird nicht einmal angeboten. Selbst im eher bürgerlichen Steglitz-Zehlendorf besucht nur jeder Dritte Religion oder Lebenskunde. Das bedeutet: Ganze Generationen von Schülern in Berlin werden nicht systematisch an die Grundlagen ihrer Kulturen und ihres Glaubens herangeführt.

Das soll anders werden, darüber besteht Einigkeit. Allerdings tobt weiter der Streit darüber, ob Religion und Lebenskunde als gleichwertige Fächer anstelle von Ethik gewählt werden dürfen. Sicher spricht für das gemeinsame Ethikfach, dass es Schülern unterschiedlicher Herkunft die Chance bietet, sich über ihre Religionen und kulturellen Wurzeln auszutauschen. Allerdings ist die Folge, dass der dann zusätzliche Religionsunterricht aus organisatorischen Gründen in den späten Nachmittag verdrängt wird. Dies birgt die Gefahr, dass tausende Oberschüler abspringen, die bisher freiwillig dem christlichen Unterricht gefolgt sind. Ein hoher Preis. Zu hoch. Es sei denn, der Ethikunterricht schafft es, die Religionsgemeinschaften so einzubinden, dass der Zauber ihrer Botschaften spürbar wird. Jetzt ist jede Schule gefragt und jeder Ethiklehrer.

Die Autorin ist Schulexpertin und Redakteurin des Tagesspiegels

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