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Brandenburg: Gefängnisausbruch: Opposition wirft Justizminister Bräutigam Versagen vor

POTSDAM .Die märkischen Haftanstalten geraten seit Jahren immer wieder in die Schlagzeilen.

POTSDAM .Die märkischen Haftanstalten geraten seit Jahren immer wieder in die Schlagzeilen.Der Grund sind Ausbrüche wegen unzureichender Sicherheitsvorkehrungen, Überbelegung, Gewalt- und Alkoholexzesse.Dabei hat Brandenburg ein besonderes Problem: Viele Anstalten, so auch die in Potsdam, befinden sich in historischen Bauten der Innenstädte, sind klein und heutigen Anforderungen nicht mehr gewachsen.Vor allem die Sicherheit läßt zu wünschen übrig.Neubau und Modernisierung halten mit den schnell steigenden Häftlingszahlen bei weitem nicht Schritt.Derzeit, so war gestern aus dem Justizministerium zu erfahren, teilen sich 2270 Häftlinge die 2085 Plätze in den Gefängnissen des Landes.Auch die Zahl der 1395 Vollzugsbeamten reicht - so meint jedenfalls der Bund der Vollzugsbeamten - nicht aus.Nach Ansicht des Landesvorsitzenden Willi Köbke werden mindestens 160 Vollzugsbeamte zusätzlich benötigt.

Die Opposition wirft der Regierung und auch Justizminister Hans Otto Bräutigam vor diesem Hintergrund Versagen vor: Der PDS-Experte Stefan Ludwig sagte gestern, weil auch das Justizministerium pro Jahr pauschal ein Prozent der Landesbediensteten einsparen müsse, würden die Stellen außerplanmäßig ausscheidender Vollzugsbeamter nicht mehr besetzt.In der Vollzugsanstalt der Stadt Brandenburg gebe es deshalb nur noch eine Notbesetzung.Daß die Flucht des Russen Serow in der Vollzugsanstalt Potsdam erst nach 14 Stunden bemerkt worden sei, belege erneut die gravierenden Personalprobleme.Ludwig warf der Landesregierung vor, mit ihrem pauschalen Personalabbau die öffentliche Sicherheit im Land zu gefährden.Der CDU-Experte Rainer Neumann stieß ins gleiche Horn: Die Situation sei aufgrund der Rotstiftpolitik in vielen Haftanstalten "nicht mehr beherrschbar".

Justizminister Hans Otto Bräutigam bestritt gestern zwar, daß es einen Zusammenhang zwischen dem Ausbruch und der Personaldecke in der JVA Potsdam gebe.Am Tage des Ausbruchs sei ausreichend Personal vorhanden gewesen.Doch bestritt er nicht, daß in vielen alten und kleinen Anstalten die Sicherheitssituation prekär sei.Daß es trotzdem mit dem Bau neuer und moderner Einrichtungen so langsam vorangeht, Zeitpläne nicht eingehalten werden, begründete Bräutigam so: "Erforderlich sind eine sorgfältige Vorbereitung und Geld." Insgesamt werden die Kosten für das überfällige Modernisierungsprogramm auf 600 Millionen Mark geschätzt.

Wo das Geld herkommen soll, ist derzeit noch offen.Bräutigam hat sich zwar schon vor Jahren für private Finanzierungsmodelle ausgesprochen, doch ist man bisher kaum weitergekommen.In Potsdam wird deshalb nicht ausgeschlossen, daß der Minister über den neuen Skandal stürzen könnte.Er selbst ließ gestern offen, ob er zurücktreten werde.Die Opposition macht ihm zum Vorwurf, die politische Verantwortung für den Ausbruch und die "unhaltbare Situation" zu tragen.Heute wird sich der Innen- und Rechtsausschuß mit dem Ausbruch befassen.

Böse Überraschung zur Mittagszeit

Chronologie der Flucht / Unglaubliche Pannen in der Justizvollzugsanstalt Potsdam

Der russische Strafgefangene Sergej Serow äußerte vergangenen Sonnabend einen Wunsch: Er wolle auf sein sonntägliches Frühstück verzichten und lieber ausschlafen.Dem gaben die Justizvollzugsbeamte statt.Als sie dem Gefangenen am Sonntag um 12.20 Uhr das Mittagessen servieren wollten, kam das böse Erwachen: Serow war nicht in seiner Zelle.Zu diesem Zeitpunkt war der Mann, der im Fall Matthias Hintze wegen erpresserischen Menschenraubes mit Todesfolge demnächst vor Gericht stehen sollte, schon 14 Stunden auf der Flucht.

Unklar ist bislang, wie Serow auf das Dach der Potsdamer Justizvollzugsanstalt gelangen konnte.Laut Dienstplan wurde er um 17.20 Uhr in seiner Zelle eingesperrt, um 18 Uhr der Verschluß kontrolliert.Wie aber kam er dort hinaus? Das Schloß der Tür wird derzeit noch untersucht.Justizminister Hans Otto Bräutigam schloß nicht aus, daß Serow am Sonnabend abend erst gar nicht in die Zelle gesperrt wurde und sich im Haus aufhielt, bis er die Chance zur Flucht bekam.Serow passierte auf seinem Weg in die Freiheit zwei Gittertüren, die, so Bräutigam, deshalb nicht verschlossen waren, "weil die lauten Geräusche beim Öffnen und Schließen den Mitgefangenen Hinweise darauf geben würden, wo sich das Wachpersonal befindet".Er schlich über eine Treppe bis in das letzte Stockwerk und gelangte dort über eine Luke auf den Dachboden der Anstalt.Der Schlüssel für die Luke, so Bräutigam, sei am 14.Oktober dieses Jahres zum letzten Mal benutzt worden.Wie Serow die Luke aufbekam, ist ebenfalls ungeklärt.

Vom Dachboden aus gelangte Serow wahrscheinlich über ein Fenster auf das schräg abfallende Dach.Mit einem aus mehreren Bettlaken zusammengeknüpften Strick seilte er sich auf ein Vordach des Gefängnisses ab, überwand eine Stacheldrahtrolle und sprang vom Dach des Nebengebäudes auf den darunterliegenden Hof.Um 22.47 Uhr erfaßte die Kamera des Bauministeriums den Mann beim Überqueren des Innenhofs.Danach verliert sich die Spur des mutmaßlichen Entführers.

Was bleibt sind Fragen.Warum wurde ein derart gefährlicher Gefangener ausgerechnet in der Potsdamer Justizvollzugsanstalt untergebracht? Immerhin sitzt Serows Komplize, Vjatscheslaw Orlow, in der gut gesicherten, modernen Brandenburger Vollzuganstalt.Zwar seien auch im Potsdamer Gefängnis in den vergangenen Jahren umfangreiche Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit durchgeführt worden, sagte Bräutigam."Die Anstalt ist nicht unsicher, aber sie entspricht auch nicht dem modernen Sicherheitsstandard." So wird ausgerechnet die Seite des Gebäudes, an dem sich Serow abseilte, nicht von Überwachungskameras erfaßt.

Und offenbar wußte der Russe davon, so wie er überhaupt über beste Kenntnisse über das Gefängnis verfügte.Was wiederum nicht verwundert, da Serow, der seit dem 8.Oktober 1997 in Potsdam einsitzt, seit April dieses Jahres als Hausarbeiter tätig war - mit Billigung der Anstaltskonferenz.

Die Vollzugsanstalt ist für 36 Gefangene ausgerichtet - derzeit sind dort 54 Häftlinge untergebracht. erb

MICHAEL MARA

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