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Geschäftsgründung in der Uckermark: "Angst vorm Scheitern ist immer da"

Sie arbeitete für zwei, und stand doch jedes Jahr wieder als Arbeitslose auf dem Amt. Dann eröffnete sie einen Laden, in Bürocontainern. Hart ist Silke Raases Leben geblieben, ein Kampf gegen die uckermärkische Wirklichkeit.

Jedes Mal, wenn die Tür aufgeht, beginnt ein Kampf. Von draußen stürmt der brutale Winterwind den Laden. Mit eisigen Schwertern bewaffnet, drängt er ins Innere. Dort wirft sich ihm der Dunst entgegen, den heiße Fette, warme Würste und Buletten erzeugen. Schwere Imbissbudenluft lässt sich nicht so leicht verdrängen. Sie gewinnt den Kampf. Die raue Wirklichkeit bleibt draußen.

Am Stehtisch zwischen Kühltruhe und Getränkekisten lehnt ein Mann vor einem Kräuterlikör und einem Pilsner. „1994 hab ich die Heizung eingebaut“, sagt er. „27 Pfennig kostete der Liter Öl.“ Heute Morgen kam die Lieferung für den Winter. Der Mann hat bezahlt, sein Haus abgeschlossen und sich auf den Weg hierher gemacht. Jetzt ist es kurz vor zehn. Er spricht mit den Flaschen, die er geleert hat: „57 Cent kostet jetzt der Liter.“

Silke Raase stemmt die Hände in die Hüfte. Sie ist eine kleine, dralle Frau mit feinen, blonden Haaren und weichen Wangen. Jeden Morgen schiebt sie die Pulloverärmel hoch bis über die Ellenbogen. Sie blickt auf die Kunden wie die Mutter aufs Kind. Sie hört nur zu. Sie sagt: „Was soll ich denn auch sagen?“

Die Kunden waren einmal Bauern. Sie leben in Gramzow, einem 2000-Seelen-Dorf in der Uckermark, dem größten und am dünnsten besiedelten deutschen Landkreis, ganz im Osten. Noch vor 17 Jahren waren die Menschen hier in die Landwirtschaft involviert. Heute genügt ein Mann, um 200 Hektar zu bestellen. Der moderne Ackerbau hat die Bauern abgehängt, die EU zahlt für ungenutzte Flächen. Es gibt viel Lebensraum in der Uckermark: Luft, Jahreszeiten, Boden, Weite. Aber es fehlt an der Vorstellung vom Leben in diesem Raum.

Die ehemaligen Bauern gehen einem Tagwerk nach, das sich Beschäftigungsmaßnahme nennt. Maßnahmen können nützlich sein. Aber sie gehören nicht zu den Menschen wie Berufe. Die 8,80 Euro, die sie täglich einbringen, setzen die Gramzower am Feierabend bei Silke Raase um. Sie stehen im Laden, trinken, reden über steigende Preise, Schulden, Ehefrauen, die weggelaufen sind. Sie streiten. Dann sagt Silke Raase doch etwas: „Raus!“ Neulich zogen sie wirklich vor die Tür. Der Imbissbudenduft hing an ihnen, und während sie sich in der Kälte rauften, umgab er sie wie ein schützender Umhang. Silke Raase sagt: „Sie haben alle eine soziale Schwäche.“

Nach 1990, als Gramzow plötzlich in der Bundesrepublik lag, wurden Wege, Straßen, Häuser renoviert. Das Dorf wurde schöner, verschwand zugleich. Die Viehwirtschaft fiel dem eingeschweißten Supermarktfleisch zum Opfer. Kleine Läden gaben sich neuen Einkaufszentren in Prenzlau, Angermünde und Schwedt geschlagen. Der Bus hält im Dorf. Eine Haltestelle heißt „Tankstelle“, aber die Tankstelle gibt’s nicht mehr, weil die Leute polnisches Benzin kaufen. Eine andere Haltestelle heißt „Zum Löwen“. Der Gasthof hält sich wacker mit zerschlagenen Fenstern und Öfen, ohne Elektrik – als Ruine. Das Dorf lebt. Wenn Leben Bewegung ist, dann kommt es besorgniserregend schwer von der Stelle.

Gewerbe- und Grundsteuer liegen am unteren Limit, weil die Leute mehr nicht zahlen können. Selbst die Glückspilze, die in drei Schichten beim Solarmodulhersteller in Prenzlau arbeiten, verdienen gerade einmal 700 Euro. Und Glückspilze gibt es nicht viele. Über die Hälfte der Kinder in der örtlichen Grundschule wissen von daheim, wie sich Hartz IV anfühlt. Offiziell sind in der Uckermark 20 Prozent der Menschen erwerbslos, viele seit Anfang der 90er Jahre. In Gramzow sagt man: Wer jung ist, geht weg, und wer noch hier ist, ist bedürftig.

Als Silke Raase 1992 in der Uckermark die Schule beendete, waren auch ihre Eltern bereits arbeitslos. Sie wurde Wirtschaftssekretärin, legte das Fachabitur ab, wurde Köchin. Sie verliebte sich in Mario aus Gramzow, zog zu ihm. Er war Landwirt gewesen wie alle in seiner Familie, nun arbeitete er als Fernfahrer, als Staplerfahrer, war in der Munitionsentsorgung, Kraftfahrer eines Bauunternehmens. Sie kochte im Seehotel Huberhof nahe Gramzow. Dort hieß es: Was vier schaffen, schaffen zwei, was zwei schaffen, schafft einer. Jeder Job stand jederzeit auf dem Spiel. Silke Raase rackerte 14 Stunden am Tag, immer zum Saisonende stand sie als Arbeitslose auf dem Amt.

Im Frühjahr 2005 kauften sie und ihr Mann drei Bürocontainer, um einen Laden daraus zu machen. „Getränke & Imbiss“, die Idee war nicht weniger als ein Lebensplan. Das Gemeindeamt behandelte sie wie andere Ideen auch: Es zitierte die Auflagen. Obwohl sie die Container einfach nur in ihren Garten stellten, sollten Raases eine Baugenehmigung einholen, einen Architekten engagieren, ein Fundament ausheben, den Unterbau errichten. Es gab Vorschriften für Brandschutz und Wärmedämmung.

Mario Raase zimmerte einen Dachstuhl, da sonst Regenwasser in die Dämmschicht gelaufen wäre. Er baute und baute, kurz bevor das Geld ausging, zahlte er 100 Euro für die Zwischenabnahme, damit seine Frau endlich verdienen konnte. Seitdem steht sie morgens um sechs auf, füttert Enten, Hühner, Kaninchen im Stall und erledigt den Haushalt. Um acht ist sie im Laden. In den Regalen dort stehen Lebensmittel und Drogeriewaren, Zigaretten, Autoersatzteile, Futter-, Dünge-, Schädlingsbekämpfungsmittel. Sie kocht und schenkt Getränke aus, schließt um sechs, samstags um drei. Ihre Abende verbringt sie mit der Abrechnung zu Hause.

Ende 2005 hatten sie und ihr Mann endlich alle Auflagen des Amtes erfüllt. Zur Abnahme mussten sie das Gutachten eines Elektrikers liefern. Für Bürocontainer, die sie gebrauchsfertig gekauft hatten, und das mittlerweile ein Jahr zuvor. Damals sah ihre Idee wie ein mutiger Feldzug gegen die raue Wirklichkeit aus. Mittlerweile schien es, als ließe sich die Wirklichkeit nicht einmal provozieren. Sie trumpfte auf: mit Hygienekontrollen und Überraschungsbesuchen des Finanzamts. Auch verkaufen sich in der Wirklichkeit die Lebensmittel im Laden nicht gut. Nur der Alkohol verkauft sich. Alkohol macht Stammkunden. Sie nennen den Laden „Containerbar“. Geht der Monat zur Neige, kommen aber auch sie nicht mehr. Zum Monatsende geht überhaupt selten die Tür auf. Ringsum ist das Arbeitslosengeld alle.

Allerdings kommen jederzeit Hartz-IV-Empfänger, die nichts kaufen. Sie bitten um die Bestätigung fürs Amt, dass sie einen Job gesucht haben. Silke Raase hat den Stift zur Hand, gibt Autogramme. Sie bekommt auch echte Bewerbungen. Die Leute wollen Hilfsverkäufer, Küchenhilfe, Hausmeister werden. „Man muss wissen, mit wem man es zu tun hat“, sagt sie und liest jeden Lebenslauf. „Bis zur Wende waren die Menschen hier ganz verschieden“, sagt sie. „Danach gleichen sich die Leben. Es ist nichts Besonderes mehr zu erkennen.“ Auf dem Computer hat sie einen Antwortbrief erstellt, ändert immer nur die Adressen. Der Brief sagt allen Bewerbern auf die gleiche Weise mit dem üblichen Bedauern ab.

Seit damals, als Silke Raase ein Schulmädchen war, hat ihre Mutter nie wieder Arbeit gefunden. Sie ist jetzt 51, stellt sich in den Laden, damit die Tochter ihn mal verlassen kann. Sei es, um den Sommerurlaub zu verbringen. Dann sitzt das Ehepaar auf der Terrasse unterm Himmel von Gramzow. Schlendert durch den Garten zur Mutter rüber, um im Laden zu Mittag zu essen. Auch am Einkaufstag springt die Mutter ein. Silke Raase holt Ware beim Großhandel. Jedoch ist dort vieles teurer als bei Discountern. Also klappert sie noch Real, Lidl, Rewe, Netto und Aldi ab. Legt als Kundin in den Korb, was sie später als Verkäuferin ins Regal stellt. Das nimmt sich aus wie ein Kaufmannsladenspiel. Es ist der Ernst des Lebens.

„Die Angst vorm Scheitern ist immer da“, sagt Silke Raase. Sie spürte sie schon auf dem Arbeitsamt, als sie verkündete, sich selbstständig zu machen, und niemand gratulierte. Sie sollte ihre Idee erklären. Vorrechnen. Doch sie wusste nicht, ob Kunden kommen würden, dass die Mehrwertsteuer steigen, Milch, Energie, Versicherungen teurer werden würden. Dass sie das Bier kühlen muss, weil die Leute gleich im Laden trinken. Dass Lieferanten wegen hoher Benzinpreise nur noch riesige Mengen bringen, dass sie Gefriertruhen würde anschaffen müssen. Anders als im Kaufmannsladen kann sie steigende Kosten nicht auf die Waren umlegen. Sie kann nur bei sich selbst abziehen.

Wenn sie mit beladenem Auto von der Einkaufstour kommt, lassen die Männer im Laden die Biere stehen. Du machst nichts!, rufen sie. Packen an, schleppen, sortieren in die Regale. „Meine Stammkunden halten mich. Weil es sie gibt und weil sie sind, wie sie sind, könnte ich nie den Kopf in den Sand stecken“, sagt Silke Raase. Im Grunde ist die Rechnung einfach. Wenn Gramzow ihren Laden will, muss Gramzow kaufen kommen: gemeinsam gegen die raue Wirklichkeit. Aber was können Kunden tun, die kaum Geld ausgeben können? „Gib den Besen!“, sagt ein Mann. „Ich feg dir den Hof.“ Als er fertig ist, gibt sie ihm noch ein Mittagessen.

Bei der ersten Inventur ein halbes Jahr nach Eröffnung fehlten plötzlich Waren im Wert von 1000 Euro. Silke Raase rechnete, grübelte, prüfte. Dann merkte sie, dass Zigaretten fehlten, Süßigkeiten. Sie starrte die Lücken im Regal an. Es war der Tiefpunkt. „Ich habe mich gefragt: War der Laden die richtige Idee?“ Sie sprach das Problem an. Ein Kunde, den die Ansprache traf, ist bis heute beleidigt. Sie kaufte eine Kamera, die jeden anglotzt. Auch ihr Mann schaut öfter vorbei. In seiner Arbeitslatzhose sieht Mario Raase aus wie ein Baum. Er hinterlässt Dreckspuren, weil die Uckermark aus den Profilen seiner Schuhsohlen bröckelt.

Weil der Laden seiner Frau nur das Geld abwirft, um laufende Kosten zu bestreiten, liegt der Rest des Lebensunterhalts in seinen Händen. Er arbeitet in der Schwedter Papierfabrik. Am Feierabend bewirtschaftet er 4,5 Hektar Land. Das Getreide bringt die Heizkosten rein, Futter für die Tiere, und sie essen ihre eigenen Kartoffeln. Mario Raase ist ein Baum, den man nicht fällen kann. Würde er seine Arbeit verlieren, müsste seine Frau den Laden schließen. Dann müsste wieder das Amt für Grundsicherung ran. Im Sommer war er elf Wochen krank. Lag zu Hause und bangte. Der Arzt sagt: So ein Bandscheibenvorfall kann immer wieder Ärger machen.

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