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Brandenburg: Potsdam baut Traumschlösser

Bis Sonntag treffen sich Märchenerzähler in der Landeshauptstadt. Am Sonnabend kann ihnen jeder zuhören

Potsdam. Eigentlich müsste es nach Kakao riechen und nach frisch gebadeter Haut – wie früher eben, als man noch Kind war. Als die Mutter sich vor dem Einschlafen an die Bettkante setzte, mit einer Tasse Kakao und dem Märchenbuch in der Hand. Als sie von Hexen und Zwergen erzählte und von Fröschen, die zu Prinzen werden.

Jetzt aber riecht es nach Kräutertee und ein bisschen nach getragenen Socken – so wie es eben riecht, wenn eine ganze Schulklasse ihre Schuhe ausgezogen hat. 20 Paar Schuhe stehen vor dem Haus Alexandrowka in der russischen Kolonie. Drinnen in der guten Stube sitzen 20 Kinder auf dem Teppichboden. Ganz still, fast andächtig, mit offenen Mündern. Es ist zehn Uhr morgens, und es ist Märchenstunde in Potsdam.

Seit Mittwoch und noch bis Sonntag ist die Landeshauptstadt in ein Takatukaland der Märchen und Sagen verwandelt. So lange dauert der Internationale Kongress der Europäischen Märchengesellschaft (EMG). Da debattieren 400 Wissenschaftler und Märchenliebhaber im Hans-Otto-Theater über Traumhäuser und Wolkenschlösser. Sie fragen sich zum Beispiel, warum im Märchen das Ehegemach der Prinzen und Prinzessinnen – die ja glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben – nie beschrieben wird. Und so reden sie dann über das Schlafzimmer als heikelsten Ort der Handlung, ein Ort an der Grenze zwischen Himmel und Hölle. Manchmal sind Märchen doch sehr nah dran an der Wirklichkeit.

Karin Elias sitzt auf der roten Samtcouch im Haus Alexandrowka. „Märchenerzählerin“ steht auf ihrer Visitenkarte. Das ist fast so, als ob „Weihnachtsmann“ oder „Osterhase“ drauf stehen würde. Wie wird man Märchenerzählerin? „Ich habe gespürt, dass ich etwas Neues, ganz Besonderes machen werde“, sagt Karin Elias. Klingt mystisch – genau wie die Märchen, die sie erzählt. Seit fast 20 Jahren ist Karin Elias Märchenerzählerin. Sie hat sogar ein Zertifikat. Dafür musste sie Seminare besuchen und eine Erzähl-Prüfung vor einer Kommission der EMG ablegen.

Geprüfte Märchenerzähler haben nicht nur eine samtigweiche Stimme, sondern sie wissen auch wo das Reich der Phantasie liegt und wie man dort hinkommt. „Fasst euch mal alle an die Stirn“, sagt Karin Elias zu der zweiten Klasse der Karl-Förster-Grundschule. Denn dahinter wohne die Phantasie. Dann, Hokuspokus, zaubert sie zusammen mit den Kindern einen Schlüssel. Den stecken sie alle in das sonst unsichtbare Schloss auf ihrer Stirn – und schwups, schon sind sie im Land der Phantasie. Geht wirklich ganz einfach. Karin Elias nimmt ihre Zuhörer mit in den kältesten Teil des Phantasiereiches, der wie in der wirklichen Welt Sibirien heißt. Sie erzählt das Märchen von dem halb gerupften Hähnchen, das bis heutein den sibirischen Wäldern sitzt und Flöte spielt.

Geflötet wird auch in der Lindenstraße, allerdings nicht vom halbnackten Federvieh, sondern vom Freundeskreis der Pfadfinder. Auf einer Wiese haben sie ihre Jurte aufgebaut. Ums Lagerfeuer liegen bunte Decken, Kinder fläzen sich darauf. Mittendrin hockt ein Mann im Anzug: Brandenburgs Bildungsminister Steffen Reiche. Politiker können auch ziemlich gute Märchenerzähler sein – nicht nur im Wahlkampf. Und so erzählt Reiche, wie das Märchen der nackten Wahrheit Kleiderschenkte und sie dadurch erträglicher machte. Seitdem gehen Märchen und Wahrheit Hand in Hand. Eine weise Geschichte – auch wenn sie in der Politik ab und zu missverstanden wird.

Dagmar Rosenfeld

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