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Proteste gegen Rot-Rot: Vertuschter Unterrichtsausfall

Brandenburgs Bildungsministerin Martina Münch (SPD) kam nicht: Auf den Protest-Personalversammlungen mit 11 000 Lehrern hätte sie erfahren können, wie an den Schulen die Statistiken zum Unterrichtsausfall im Land frisiert werden.

Es ist ein Moment, an dem sich all der in den Schulen angestaute Frust plötzlich entlädt: Eben war es noch mucksmäuschenstill im proppenvollen „Stahlpalast“ zu Brandenburg an der Havel. Doch nun spenden 1500 Lehrer dem jungen Kollegen aus einer Teltower Oberschule tosenden Beifall. Wohl allen im Saal hat er gerade mit seinem persönlichen Bericht aus dem Schulalltag aus der Seele gesprochen. Und mit seinem Aufruf zum zivilen Ungehorsam. „Ich weiß nicht, ob es für mich Konsequenzen hat: Aber ich kann jetzt wenigstens wieder in den Spiegel schauen“, hatte der 32-Jährige gesagt. Eigentlich sei er nämlich als Sozialpädagoge und als Zweitlehrer für Klassen mit behinderten Kindern an der Teltower Schule tätig. Inzwischen müsse er aber ständig zweckentfremdet als Vertretungslehrer für ausfallenden Normal-Unterricht einspringen. „Wenn es eine Ausnahme wäre, wäre das okay. Aber es passiert systematisch, weil die Grundausstattung nicht stimmt.“ Wenn sich Bildungsministerin Martina Münch (SPD) dann rühme, wie wenig Stunden angeblich in Brandenburg ausfallen, bekomme er die blanke Wut. Er persönlich weigere sich deshalb seit Anfang November, solche Vertretungsstunden zu geben. Viele im Saal – der größte der Stadt Brandenburg, größer als das Theater – könnten ähnliche Geschichten erzählen. Und manche tun es, nachdem das Eis gebrochen ist. Auf einer Leinwand steht der Wahlspruch der Protestveranstaltung: „In ein Fass passen einhundert Tropfen. Beim 101. Tropfen läuft es über.“ Wie hier in Brandenburg an der Havel für den Schulamtsbezirk Potsdam – also die Landeshauptstadt, die Stadt Brandenburg, Potsdam-Mittelmark und das Havelland – fanden am Donnerstag aus Protest gegen Missstände im Bildungssystem landesweit fünf solcher Personalversammlungen statt. Nach der dritten Stunde blieben viele Schulen geschlossen. Rund 11 000 der 17 000 Lehrer im Lande nahmen teil. Vergleichbare Proteste gab es seit 1990 nicht. Überall wurde ein mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) abgestimmter Forderungskatalog an die Landesregierung verabschiedet, der auf eine drastische Erhöhung des Bildungsetats von derzeit 1,5 Milliarden Euro um 100 bis 200 Millionen Euro jährlich hinausliefe, etwa durch die Absenkung der Pflichtstundenzahl und eine Erhöhung der Vertretungsreserve für Unterrichtsausfall von derzeit drei Prozent auf acht Prozent. Es geht aber auch um die Wiedereinführung des Weihnachtsgeldes für verbeamtete Lehrer, das vor drei Jahren gestrichen wurde, in Berlin aber 600 Euro beträgt. Oder um Beförderungen und Prämien, die es in Brandenburg „de facto nicht gibt“, wie Dagmar Heinisch-Weise, Chefin des Personalrates im Schulamt Brandenburg sagte. Auch hier seien im letzten Jahr viele Lehrer altersbedingt ausgeschieden, die Stellen aber nicht 1:1 wieder besetzt worden. Stattdessen zeichne Brandenburgs Bildungsministerium, so eine Rednerin vom Philologenverband sarkastisch, „Verdiente Lehrer“ mit einem Kugelschreiber aus. Bildungsministerin Martina Münch (SPD) war auf keiner Versammlung dabei. Sie könne nicht gleichzeitig an fünf Orten sein, hieß es als Begründung. Auch das Ministerium schickte trotz Einladung nirgendwohin eigene Vertreter, was in Brandenburg an der Havel ein gellendes Pfeifkonzert auslöste. Vertreten war dort lediglich der Schulrat, der auf dem Podium saß. Zu Wort meldete sich Münch allerdings. „Bei allem Verständnis für die große Belastung von Lehrern“ wies die Bildungsministerin am Donnerstag die GEW-Forderungen zurück. „Das ist unrealistisch, nicht finanzierbar“, erklärte Münch. Bei der Lehrerausstattung wie auch beim Unterrichtsausfall stehe Brandenburg „im Vergleich zu anderen Ländern nicht schlecht da“. Eine „Frechheit“, sagt dazu eine gestandene Pädagogin ins Mikro. Wie manche dieser Zahlen zustande kommen, wurde im „Stahlpalast“ offen ausgesprochen wie selten zuvor. „Jeder von uns erlebt doch, dass zur Vertretung alles herangezogen wird, was zwei Beine hat, Referendare, Sozialarbeiter“, hieß es da. „Und wir helfen doch alle mit, die Statistik zu frisieren.“ Nur damit aus den acht Prozent dann die drei Prozent in der Statistik werden, aus Angst, dass es sonst auf die Schule zurückfalle, aus Loyalität. Sie sei im Osten sozialisiert, habe damals erlebt, wie für Erich die Bordsteine gestrichen wurden, sagte eine Frau. Man könne dies nicht direkt vergleichen, aber es gebe eine Parallele, „und die hat etwas mit der Anatomie von Macht zu tun, mit Paralleluniversen und Realitätsverweigerung“. Und „wieder wird einer Regierung geholfen, sich selbst zu belügen.“ Tosender Beifall.

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