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Brandenburg: Seine Scholle

Alltag am extremen Ort: Acht Monate lang erforscht der Brandenburger Jürgen Graeser in der Arktis die Veränderungen des gefährdeten Treibeises

Lindenberg/Nordwik - „Wie kalt es bei mir ist? Moment, ich schau nach – nur minus dreiundzwanzig Grad. Ich sage Ihnen, mir ist fast warm, ich war sogar schon ohne Jacke draußen.“ Der das sagt, trägt derzeit normalerweise zwölf Kilogramm Kleidung mit sich herum. Jürgen Graeser treibt gerade auf einer Eisscholle in der Arktis – aus europäischer Sicht knapp 450 Kilometer östlich vom Nordpol entfernt.

Am Handy klingt der Mann aus Brandenburg trotzdem so, als würde er im märkischen Sand stehen. Der 49-Jährige aus dem kleinen Ort Lindenberg bei Fürstenwalde südöstlich von Berlin ist der erste Deutsche, der an einer großen Treibeis-Klimaexpedition in der Arktis teilnimmt. Gemeinsam mit 20 russischen Kollegen, zwei Huskies – und einigen Eisbären in nächster Nähe – ermittelt er seit September und voraussichtlich noch bis April Wetter- und Ozonwerte im von der Klimaerwärmung gefährdeten ewigen Eis.

Die erste Frauenstimme sei das nicht, die er seit einem halben Jahr zu Gehör bekäme, antwortet Graeser, und schickt ein herzhaftes Lachen hinterher. „Ich habe schon mit meiner Mutter telefoniert.“ Der gelernte technische Assistent für Meteorologie vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven und Potsdam (AWI) arbeitet derzeit auf der Driftstation Nordpol 35 (NP-35). Die befindet sich auf einer rund drei mal fünf Kilometer großen Eisscholle. Diese ist mal größer, mal kleiner, mal hat sie riesige Risse, mal meterhohe Aufwerfungen, je nach Wetterlage. „Unter meinem Haus ist das Eis rund zwei Meter dick“, erzählt Graeser. Sein Haus, das sind 2,50 Meter mal 5 Meter styroporgefütterte Holzplatten, mit einem Ofen drin, der immer wieder gern den Geist aufgibt.

300 Meter weiter draußen dröhnt der Generator, die Camptoilette ist genauso weit weg. „Weswegen man sich jeden Gang genau überlegen und ihn auch wegen der Kälte fix erledigen muss.“ Jürgen Graesers Arbeitsstelle ist das Laborhaus, in dem er die Werte per Computer zur Auswertung nach Potsdam weiterleitet. Und natürlich die weiße, weite Wildnis.

Graeser muss täglich mehrmals vor die Tür, um die Ozonmessungen in 25 bis 30 Kilometer Höhe vorzubereiten. Und er erfasst Daten etwa zu Temperatur, Wind, Luftfeuchtigkeit und -druck mithilfe eines Fesselballons in derzeit rund 300 Meter Höhe. Den roten Ballon nennen die Expeditionsteilnehmer, die sich auf Deutsch, Englisch und Russisch verständigen, Miss Piggy. „Das Ding erinnert am Tag tatsächlich ein bisschen an ein rosa Schwein“, sagt Jürgen Graeser. Dabei sieht man dort oben am Nordpol erst seit kurzem überhaupt wieder einen hellen Schein. Vorher war es in der Polarnacht monatelang stockdunkel.

Für wohl die meisten Menschen käme so ein Job nie infrage. Was um alles in der Welt hat ihn motiviert? „Ich sage Ihnen, das ist schon eine interessante Aufgabe, an einem so extremen Ort alles ganz auf sich allein gestellt zu organisieren.“ Und, ehrlich gesagt, schiebt Graeser wieder lachend hinterher, „hat es auch seinen gewissen Reiz, seit Beginn der russischen Drifteisforschung 1937/38 der erste Deutsche zu sein“.

Seine russischen Kollegen untersuchen hauptsächlich das Meereis. Mit Hilfe der Gesamtmenge der langfristigen Daten wollen die Projektpartner die bisher lückenhaften Daten in der Arktis ergänzen und die Schlüsselregion des globalen Klimawandels besser verstehen. „Gut, dass es die Klimadiskussionen gibt“, sagt der Mann im Eis: „Was dem einen seine Eule, ist dem anderen seine Nachtigall.“ Er habe so immerhin genug Arbeit.

Auf die leichte Schulter nimmt er das ganze Thema aber keineswegs. „Wir hatten enorme Probleme, überhaupt eine geeignete, große stabile Scholle zu finden.“ Eine frühere Sommerstation sei wegen der Schmelze buchstäblich vom Eis ins Wasser gefallen.

Wie Graeser zu seinem Job kam? „Alles fing in Lindenberg an“, erzählt der 49-Jährige am Handy. Dort gibt es ein Observatorium, wo er sich als junger Mann für das Thema zu interessieren begann. Was er aus der alten Heimat Brandenburg auf die Expedition mitgenommen hat? „Meine Halskette, ein indianischer Schmuck. Und eine Freundin hat mir einen Talisman mitgegeben.“

Den kann er gebrauchen, bei einer anderen Expedition war er schon mal in einem Sturm mit 100 Stundenkilometern bei minus dreißig Grad geraten. Und gegen die Eisbären, die er auch schon gefilmt und fotografiert hat, hilft bei Gefahr nur das Gewehr der sichernden Kollegen. Die Hunde, Dina und Beljasch, seien keine große Hilfe. „Die sind ziemlich verschüchtert. Wir machen uns schon einen Spaß: Wenn die nach Norden laufen, gucken wir lieber im Süden nach, ob da was ist.“

Mit den Kollegen versteht sich Graeser bestens. Da werden Geburtstage mit Fischbulette und Rotwein gefeiert, mit Weinbrand und Baileys. „Jetzt ist bald Frauentag“, sagt Graeser, „da wollen die russischen Kollegen ihre Mütter und Frauen ehren“.

Jürgen Graeser selbst ist Single, muss es wohl sein für so einen Job. „Anständigerweise müsste ich die Expedition bis zum Schluss im September mitmachen. Aber ich werde noch für anderes gebraucht.“ Deshalb wird er schon im April abgeholt – je nach Wetter mit Helikopter oder Flugzeug, falls die Männer eine Landebahn bauen können. Der Brandenburger wird von seinem Institut dieses Jahr noch zu Messungen nach Spitzbergen und in die Antarktis geschickt.

Obwohl die zivilisierte Welt derzeit ziemlich weit weg ist, bekommt er täglich zehn bis zwanzig Mails von seinen Arbeitskollegen aus Potsdam, die ihn rund um die Uhr betreuen, sowie von Journalisten und Freunden. „Die Freunde berichten mir dann auch den neuesten Dorfklatsch. Aber ganz ehrlich“, sagt Jürgen Graeser, „das alles geht mir im Moment wirklich am Allerwertesten vorbei.“

Mehr zur Expedition im Internet unter www.awi.de,. Oder im Blog der Zeit: http://blog.zeit.de/eisscholle/

Annette Kögel

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