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Hartes Training. Orazio Giamblanco muss regelmäßig zur Krankengymnastik. Jede Bewegung kostet ihn Kraft. Physiotherapeut Tino Czerlinski ist beeindruckt von Giamblancos ungebrochenem Willen.

© Joe Kramer

Skinhead-Opfer: Jede Bewegung kostet Kraft

Vor 14 Jahren schlug ein Skinhead den Italiener Orazio Giamblanco fast tot. Seitdem ringt das Opfer mit seiner schweren Behinderung. Ab und zu gibt es kleine Fortschritte, dann aber auch wieder Rückschläge.

Von Frank Jansen

Er ist jetzt wieder da, wo er vor zehn Jahren schon mit seinem Körper gerungen hat, in dem „All Sports“-Studio für Fitness und Krankengymnastik im Bielefelder Vorort Brake. Orazio Giamblanco steht in dem Raum mit den stählernen Trainingsgeräten, der schwerbehinderte Italiener schwankt ein wenig, aber er hält durch. Ohne Krücken. Keiner stützt ihn, doch Giamblanco fällt nicht. Der Physiotherapeut Tino Czerlinski steht eng neben dem fast 70-jährigen Mann, aber der hält sich alleine aufrecht, den Blick nach unten gerichtet, auf seine orthopädischen Stiefel. „Sein Wille ist ungebrochen“, sagt Czerlinski, „das imponiert mir sehr.“ Giamblanco, ein kleiner, kompakter Mann, sagt nichts. Er will einen Schritt schaffen, wenigstens einen einzigen. „Orazio, versuch mal, mit dem rechten Bein nach vorn zu gehen“, sagt Czerlinski. Giamblanco atmet schwer, plötzlich ruckelt er mit dem rechten Bein drei, vier Zentimeter voran. Das linke Bein, in eine Stahlschiene gepresst, bleibt stehen. Mehr geht nicht. Aber das ist schon mehr, als zu erwarten war.

Vor zehn Jahren gelang das auch, ein Schritt, noch einer, ohne Stützen. Czerlinski hatte damals schon Giamblanco animiert, bis es klappte. Bis der Italiener vier Jahre nach dem „Unfall“ von 1996, wie er den Tiefpunkt seines Lebens nennt, erstmals spürte, wie das ist, für ein paar Sekunden frei gehen zu können. Mehr war damals schon nicht zu machen, Giamblanco wechselte dann den Therapeuten, sogar mehrmals, aber gehen ohne Stützen konnte er lange nicht.

Jetzt genießt Giamblanco den kleinen und doch enormen Erfolg, endlich wieder die Kraft für einen Schritt aufgebracht zu haben. „Dass er seinen Kampfesgeist nicht verloren hat, in seiner Situation, das gibt mir die Motivation, ihn ein bisschen nach vorne zu bringen“, sagt der Therapeut. Giamblanco schweigt, er greift jetzt doch zu Krücken und schlurft zu einer Lattissimus-Maschine, einem Gerät mit zwei stählernen Hebeln, an denen Gewichte hängen. Der Italiener zieht 15 Kilo, dann 20 Kilo. Er ist nach dem freien Schritt beseelt und will zeigen, was er noch kann. 14 Jahre nach dem „Unfall“.

Am 30. September 1996 attackierten in Trebbin, einer Kleinstadt südlich von Berlin, zwei Skinheads italienische Bauarbeiter. Eines der Opfer war Giamblanco. Der Rechtsextremist Jan W. schwang seine Baseballkeule und traf den Italiener mit voller Wucht am Kopf. Dass die Ärzte im Krankenhaus Luckenwalde Giamblanco mit zwei Notoperationen vor dem Tod bewahren konnten, war fast ein medizinisches Wunder. Doch der aus Sizilien stammende Mann, der gerade erst von Bielefeld nach Trebbin gekommen war, um auf einer Großbaustelle etwas Geld zu verdienen, blieb körperlich und psychisch geschädigt. Giamblanco leidet unter spastischer Lähmung, unter Magenproblemen, er hat Depressionen, er kann nur mühsam sprechen. Er ist seit jenem 30. September ein Pflegefall. Für immer.

Kein Arzt, kein Physiotherapeut konnte daran etwas ändern. Und doch gibt es ab und zu kleine Fortschritte, dann aber wieder auch Rückschläge. Seit Anfang 1997 beschreibt der Tagesspiegel Jahr für Jahr, in einer Art exemplarischer Langzeitstudie über ein Opfer rechter Gewalt, wie es Orazio Giamblanco geht, der nach dem Überfall nach Bielefeld zurückkam, wo er mit seiner Lebensgefährtin wohnt, der Griechin Angelica Berdes. Ohne sie und ohne die Hilfe von Berdes’ Tochter Efthimia hätte Giamblanco vielleicht gar nicht bis heute durchgehalten. Allein dieses Jahr geriet teilweise zur Katastrophe. Für alle drei.

Es war vor Ostern, Giamblanco tastete sich in der Wohnung mit einem Rollator voran. Angelica Berdes, eine zierliche Frau Ende 50, hatte ihn einen Moment lang nicht im Blick. Giamblanco kippelte, er griff nach dem Fernseher, der auf einem Rollschränkchen steht. „Orazio fiel um und das Gerät auf ihn drauf“, sagt Angelica Berdes, „ich dachte, es sei mit ihm vorbei.“ In Panik lief sie ins Treppenhaus und schrie. Nachbarn eilten herbei, hoben den Fernseher hoch und alarmierten Rettungssanitäter. Sie brachten Giamblanco ins Krankenhaus, vier Rippen waren gebrochen. Die nächsten Monate waren die Hölle. „Ich bin heute noch fertig“, sagt Berdes. Die Schmerzmittel, die Giamblanco nach dem Aufenthalt in der Klinik einnehmen sollte, vertrug sein Magen nicht. Die Depressionen quälten noch stärker als zuvor. Und die Beine wurden dick. Der Sturz löste eine Kettenreaktion aus, „wir sind ständig wieder rein ins Krankenhaus, wieder raus, wieder rein“, sagt Berdes. Vier Monate ging das so.

Angelica Berdes verlor ihren Mut, selbst den für den Spätsommer geplanten Urlaub in Griechenland wollte sie nicht mehr. Aber ihre Tochter Efthimia bestand darauf. Die 36 Jahre alte Frau, die der Mutter häufig bei der Pflege Giamblancos hilft, buchte Zimmer in einem Hotel. Es ist halbwegs behindertengerecht, außerdem gibt es einen Fitnessraum. „Da hat Orazio dann trainiert und es ging ihm wieder besser“, sagt Efthimia Berdes, „auch weil wir am Mittelmeer waren, das erinnert ihn an seine Heimat Sizilien.“ Das Hotel sei teuer gewesen, „aber wir hatten zum Glück die Spenden“. Efthimia Berdes klingt auch jetzt noch erleichtert. Regelmäßig nach der jährlichen Reportage im Tagesspiegel geben Leser Geld, beim letzten Mal waren es mehr als 9300 Euro. Auch in Trebbin wird gesammelt, die Stadt hat 2009 ein Konto eingerichtet. Im vergangenen Jahr kamen zudem drei Trebbiner Kommunalpolitiker nach Bielefeld, besuchten Giamblanco und die Frauen. Das tat ihnen gut. Und im November gingen fast 1800 Euro aus Trebbin an Giamblanco.

Vielleicht hat gerade dieses Geld, als Zeichen der Anteilnahme aus dem weit entfernten Brandenburg, Giamblanco und den beiden Frauen geholfen, den zweiten Schicksalsschlag in diesem Jahr etwas besser zu verkraften. Mitte November starb Giamblancos ältester Bruder Antonio, er hatte auch in Bielefeld gelebt. Wieder nahmen die Depressionen zu, „ging schlecht mit mir“, sagt Giamblanco. Aber jetzt ist das Schlimmste offenbar überstanden. Außerdem stabilisierte ihn Tino Czerlinski, den Giamblanco 2002 verlassen hatte und seit sechs Wochen wieder aufsucht.

Stabilisiert, wenn man das so sagen kann, hat sich auch der Täter vom September 1996. Jan W. ist längst weg von der rechten Szene, die vom Landgericht Potsdam im April 1997 verhängten 15 Jahre Haft gelten als verbüßt. Aber der 36 Jahre alte Mann, heute selbstständiger Bauarbeiter, hadert mit sich. Am Jahrestag der Tat „bin ich wieder zu einem See gefahren und hab’ geheult“, sagt er. Vor vier Jahren gab er dem Tagesspiegel zwei Briefe für Giamblanco und die Frauen mit. In den langen Schreiben entschuldigte sich der Ex-Skinhead und rang um eine Erklärung für seine Tat. Giamblanco und die Frauen waren gerührt. Sie brachten die Kraft auf, Jan W. zu verzeihen.

Kraft. Wie viel haben die drei noch, um zu erwarten, dass 2011 besser wird, um sich einen Wunsch auszumalen? Giamblanco lächelt, „möchte wieder nach Sizilien“. Zweimal konnte er in den vergangenen Jahren dank der Spenden in seine alte Heimat reisen, mit den Frauen. Efthimia Berdes sagt, sie wolle endlich eine Familie gründen und nicht den Rest ihres Lebens nur zwischen dem Job in einer Schokoladenfabrik und der Pflege für Orazio verbringen. Angelica Berdes, die gleich nach der Gewalttat ihre Arbeit aufgab, stützt den Kopf auf die rechte Hand. Dann murmelt sie, „ich muss jetzt noch öfter zum Psychiater“. Stille. Schließlich bricht es aus ihr heraus, „dieses Jahr haben wir es schwer gehabt. Ich weiß gar nicht mehr, was ich will. Nur noch gesund bleiben. Und dass Orazio nicht wieder was Schlimmes passiert.“

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