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Brandenburg: Thi Hoas stille Helfer

Eine junge Vietnamesin überlebte im August einen schrecklichen Unfall. Ihr Schicksal rührte viele Tagesspiegel-Leser

Von Sandra Dassler

Cottbus/Berlin - Die kleine, dunkelhaarige Frau auf dem Krankenbett schaut ungläubig auf den Brief. Wer sollte ihr schreiben in diesem fremden Land? Erst vor wenigen Tagen ist sie aus dem Koma erwacht – mehr als zehntausend Kilometer von ihrer Heimat entfernt. Sie kennt hier keinen Menschen – bis auf Rosi, ihre Bettnachbarin. Rosi mit den freundlichen Augen und der unerschöpflichen Phantasie, wenn es darum geht, ihr etwas mit Händen und Füßen zu erklären.

Den Brief mit der schlichten Anschrift „Thi Hoa im Klinikum Cottbus“ kann Rosi nicht in Gestensprache übersetzen. Aber Huyen Thanh Nguyen, die Dolmetscherin, ist zufällig am Krankenbett und überträgt ins Vietnamesische, was da mit zittriger Hand geschrieben wurde: „Ich habe von Ihrem schlimmen Schicksal gelesen. Bitte verlieren Sie nicht den Mut! Ich schicke Ihnen ein wenig Geld, damit Sie Ihre Kinder in der Heimat anrufen können.“ Thi Hoa weint. Die Sprachkanüle, die ihr nach einem lebensrettenden Luftröhrenschnitt eingesetzt wurde, klackt heftig. Dann diktiert sie der Dolmetscherin eine Antwort.

Zwei Tage später freut sich Sigrid Schöne (Name geändert) in einer Berliner Seniorenresidenz über die kurze Nachricht aus Cottbus. Die 80-Jährige hatte schon Zweifel, ob der Brief mit der unvollständigen Adresse ankommen würde. „Ich habe das Geld mit Gottvertrauen spontan losgeschickt“, erzählt sie. „Meine Rente ist nicht hoch, aber ich musste dieser Frau einfach helfen.“

Das war im September dieses Jahres – kurz nachdem der Tagesspiegel unter der Überschrift „Endstation einer Sehnsucht“ über Thi Hoa, die 36-jährige Frau aus einer der ärmsten Provinzen Vietnams, berichtet hatte: von ihren Problemen, als alleinstehende Mutter ihre zehnjährige Tochter und ihren achtjährigen Sohn satt zu bekommen; vom Versprechen von Schleppern, in Deutschland könne sie als Kindermädchen 500 Euro im Monat verdienen – ganz legal.

Um diese „Arbeitsvermittlung“ und den Flug zu bezahlen, musste Thi Hoa einen Kredit von 10 000 Dollar aufnehmen. Dafür verpfändete sie ihr Häuschen und das ihrer Schwägerin. Der Abschied von den Kindern, die bei der Großmutter blieben, fiel ihr schwer.

Dass sie Menschenhändlern in die Hände gefallen war, ahnte Thi Hoa erst, als sie bei der Einreise nach Deutschland im August nachts in ein mit acht Menschen besetztes Auto steigen musste. Verfolgt von der Bundespolizei, die die Schleuser observierte, verlor der Fahrer in rasender Fahrt südlich von Berlin die Gewalt über den BMW. Sechs Menschen starben.

Thi Hoa und ein junger Mann aber überlebten, mit schwersten Verletzungen. Wochenlang lag die nur 1,40 Meter große Frau im Koma. Zu Hause, wo man nichts von ihr hörte, trauerte man schon um sie. Als Thi Hoa erwachte und das erste Mal ihre Kinder anrief, weinten die nur: „Mami, Du bist doch tot.“ Dass sie als Illegale hier nicht arbeiten darf, ließ Thi Hoa fast verzweifeln. „Ich möchte wieder nach Vietnam zu den Kindern“, sagte sie. „Aber ich muss dort den Kredit abzahlen, sonst verlieren wir die Häuser.“

Das Schicksal der 36-jährigen Vietnamesin rührte viele Tagesspiegel-Leser. „Bitte richten Sie ein Hilfskonto ein!“, hieß es in zahlreichen Anrufen. „Ich habe noch nie gespendet“, sagte ein Mann, „aber dieser Frau will ich helfen.“

Er hat geholfen. Wie zahlreiche Menschen in Berlin, Brandenburg und ganz Deutschland. Erich Kotnik, Sprecher des Diakonischen Werks Berlin-Brandenburg, richtete ein Spendenkonto ein, um Thi Hoa die Rückzahlung des Kredits und das Wiedersehen mit ihren Kindern zu ermöglichen.

Ein Hamburger Eventmanager, der wie viele andere Helfer nicht genannt werden möchte, sagte: „Wenn man da nichts tut, kann man ja nachts nicht mehr schlafen.“ Dann mailte er die Geschichte an ein Netzwerk, das nach dem Tsunami 2004 entstanden war. Auch von dort kamen viele Spenden. Eine Familie aus dem Rheinland überwies 4000 Euro. Eine Berlinerin bat bei ihrer Taufe um Hilfe für die Vietnamesin. Eine andere Frau besorgte ein Handy. Thi Hoa war glücklich. Jetzt konnte sie ihre Kinder häufiger anrufen. Und Huyen, ihre Übersetzerin.

Huyen Thanh Nguyen, die mit ihrem Mann und drei Kindern in Potsdam lebt, hatte auf Bitten des Flüchtlingsrats Brandenburg bei den ersten Kontakten gedolmetscht. Thi Hoa vertraute ihr sofort. Bedingungslos, wie einer großen Schwester. Huyen Thanh Nguyen hat Thi Hoa manchmal auch in der Nacht getröstet: wenn die Sehnsucht nach den Kindern unerträglich wurde oder die Unfallwunden schmerzten. Der Flüchtlingsrat sorgte dafür, dass Thi Hoa nach der Entlassung aus der Klinik ins Asylbewerberheim Potsdam kam. Dort kann Huyen mit ihr zum Arzt gehen und zur Physiotherapie.

Neben dem Flüchtlingsrat kümmert sich auch Pater Stefan Taeubner, der Vietnamesen-Seelsorger des Bistums Berlin, um Thi Hoa und Cao Tran, den zweiten Überlebenden des Unfalls vom August. Der Pater war nach dem Unglück nach Vietnam geflogen, er spricht Vietnamesisch und besuchte die Angehörigen der bei dem Unfall Getöteten.

Am dritten Advent hat Stefan Taeubner in Berlin gemeinsam mit Thi Hoa und Cao Tran eine schlichte Feier organisiert. Sie gedachten der toten Landsleute und bedankten sich stellvertretend wenigstens bei einigen ihrer Helfer. Viele folgten der Einladung. Auch Rosi, die einstige Bettnachbarin Thi Hoas im Krankenhaus, war aus der Lausitz angereist. Thi Hoa fiel ihr um den Hals, wollte sie nicht mehr loslassen. Auch zu den anderen Helfern hat sie immer wieder ihr „Danke sehr“ gesagt. So richtig begreift sie noch nicht, warum Fremde so viel für sie gespendet haben. 10 400 Euro sind bisher zusammengekommen – Thi Hoa kann den Kredit zurückzahlen. Wenn sie wieder ganz geheilt ist, will sie zu den Kindern nach Hause.

Einige Helfer träumen nun davon, im Heimatdorf Thi Hoas in Mittelvietnam eine kleine Fischfabrik einzurichten, in der sie und andere Vietnamesen ihren Lebensunterhalt verdienen können. Noch fehlt das Startkapital, es werden rund 25 000 Euro gebraucht. Aber die Menschen, die an diesem dritten Advent in Berlin zusammen saßen,werden auch hier tun, was sie können.

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