zum Hauptinhalt
Trauer. Stofftiere an Leonies Haustür als Zeichen der Anteilnahme.

© Mirko Sattler

Totes Mädchen: Mutmaßungen über Leonie

Nur drei Monate wurde das Kind alt. Dabei gibt es in der Kleinstadt Lauchhammer bei Dresden ein Patenprojekt für Problemfamilien.

Von Sandra Dassler

Lauchhammer – „Tschüss, bis morgen“ – die drei zehn- bis zwölfjährigen Jungen, die gerade den schattigen Garten der „Arche“ verlassen, winken noch mal lässig. Jörg Nicklisch winkt zurück. Dann zeigt er auf eine große fünfeckige Holzkonstruktion im Garten. „Das soll ein Kinderhaus werden“, sagt der 56-Jährige, halb belustigt, halb resigniert. „Aber weit sind wir noch nicht gekommen. Null Bock.“

Nicklisch ist seit 19 Jahren Sozialarbeiter im Jugendbegegnungszentrum „Arche“ in Lauchhammer-Mitte. Bis zu 50 Kinder und Jugendliche der südbrandenburgischen Stadt werden hier betreut – die meisten aus Familien, die seit vielen Jahren von Sozialhilfe leben. Das prägt, sagt Nicklisch: „Die sehen, dass das für das Nötigste reicht und Mama und Papa mit dem Bier vor der Glotze auch ganz zufrieden sind.“ Diese Mädchen und Jungen braucht Nicklisch gar nicht fragen, was sie mal werden wollen. Er kennt die Antwort schon: „Hartz IV. Das reicht doch.“

Mandy B. war nicht so, erinnert er sich. Sie wollte Sängerin oder Schauspielerin werden. „Die war total ausgeflippt. Und wenn sie ein Mikrofon sah, nicht mehr zu stoppen.“ Das war Mitte der neunziger Jahre, Mandy B. war damals 14. Heute ist sie 30, mit dem großen Traum hat es nicht geklappt. Mit den kleineren Träumen offenbar auch nicht: Mandy B. fand keinen Halt. Nicht bei den Lebensgefährten, nicht bei ihren Kindern. Neun Jahre ist der große Sohn, zwei Jahre der kleine. Ihre Tochter Leonie ist Anfang Juli gestorben. Oder getötet worden. Vielleicht durch ihre Mutter Mandy B. – das ermittelt die Staatsanwaltschaft in Cottbus. Vielleicht war es auch ein Unfall, ausgeschlossen ist das nach jetzigem Ermittlungsstand nicht.

Drei Monate alt wurde die kleine Leonie nur, die Nachbarn haben die Tragödie kommen sehen. Erzählen von Depressionen, Alkoholorgien. Das Jugendamt Senftenberg, das die Familie schon lange betreut, schweigt und verweist auf die Staatsanwaltschaft Cottbus. Die verweist auf die laufenden Ermittlungen und den Persönlichkeitsschutz. Aber in Lauchhammer brodelt die Gerüchteküche. Vor allem im Wohngebiet Neustadt III, das zu DDR-Zeiten für Menschen gebaut wurde, deren Dörfer dem Braunkohletagebau weichen mussten. Damals arbeiteten in Lauchhammer noch 25 000 Menschen. 15 000 Arbeitsplätze sind in den vergangenen 20 Jahren weggefallen, 10 000 Menschen weggezogen. Neustadt III ist modernisiert worden, und die fünfstöckigen Plattenbauten stehen zwischen grünen Wiesen und Kinderspielplätzen.

Vor die Wohnungstür von Mandy B. hatten Nachbarn Blumen und Plüschtiere gelegt, als der Tod der kleinen Leonie bekannt wurde. Das hätte nicht passieren dürfen, sagt eine Bekannte von Mandy B., die ihren Namen nicht nennen will und selbst drei Kinder hat: „Man hätte Mandy ins betreute Wohnen holen müssen. Auf jeden Fall war klar, dass ein Hausbesuch am Tag durch das Jugendamt nicht ausreicht. Was Mandy in letzter Zeit durchgemacht hat, hätte auch einen weniger labilen Menschen umgehauen.“ Dann erzählt sie, dass Mandy sich vom Lebensgefährten, der sie nicht gut behandelte, getrennt hatte und eine Entziehung machte, um ihre Jungen wieder selbst betreuen zu können. Dann starb ihre Mutter, das Baby kam zu früh zur Welt und musste lange im Krankenhaus bleiben. „Ich glaube, Mandy hatte die kleine Leonie erst seit ein paar Wochen“, sagt die Frau: „Sie ist kein schlechter Mensch, liebt ihre Kinder. Sie war wahrscheinlich nur völlig überfordert.“

Mandy B. hatte am 5. Juli die Notärzte gerufen, als sie bemerkte, dass Leonie nicht mehr richtig atmete. Die Notärzte brachten das Baby ins Krankenhaus, dort wurden die schweren Kopfverletzungen festgestellt, an denen Leonie starb. Auch sieben Wochen später gibt es kein abschließendes Ermittlungsergebnis.

Die Bekannte hat Mandy seither nicht gesehen. „Sie hat sich wohl selbst in die Psychiatrie einweisen lassen“, sagt sie. Die Söhne seien vom Jugendamt in Obhut genommen worden. „Wir wissen nicht, wo der Maximilian ist“, sagt einer der Jungen, die Nicklisch betreut. Er hat gehört, was passiert ist: „Aber seine Mutter ist ganz okay, das weiß ich, weil ich mal bei Maximilian zu Hause geschlafen habe.“

Hilfsangebote gibt es genügend in Lauchhammer, sagt Jörg Nicklisch. Hier wurde sogar vor fünf Jahren das Netzwerk Gesunde Kinder gegründet. Nach skandinavischem Vorbild gehen Patinnen in Familien und helfen vor, während, vor allem aber nach der Geburt von Kindern. Derzeit nehmen 606 Familien daran teil, das entspricht etwa 50 Prozent der Gesamtzahl der Geburten in der Region. 1027 Kinder wurden seit 2006 von 149 Patinnen betreut. Ob die Kinder von Mandy B. auch dabei waren, will im Netzwerk niemand sagen. Es sei kontraproduktiv, wenn das Netzwerk immer nur mit schlimmen Geschichten in Verbindung gebracht werde. Es solle nicht der Eindruck entstehen, dass es nur um Problemfamilien gehe.

Aber genau die müsse man erreichen, sagt Sozialarbeiter Nicklisch. Die Passivität vieler Langzeitarbeitsloser sei erschreckend. Das Holzhaus in der „Arche“ sollten ursprünglich Kinder mit ihren Eltern bauen. „Ich hatte extra zu Kaffee und Kuchen eingeladen, um das Projekt vorzustellen. Aber irgendwie muss sich herumgesprochen haben, dass es um Arbeit geht. Von den Eltern ist niemand gekommen.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false