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Auf Twitter führen die Nutzer eine rege Debatte über Alltagssexismus.

© dpa

Update

Aufschrei: Sexismusdebatte im Netz

Der Hashtag #Aufschrei zeichnet ein gesellschaftliches Bild zwischen Alltagssexismus und Kommunikationsproblemen. Die Reaktionen zeigen vor allem eins: Sexismus ist größer als der Fall Brüderle. Die Aktion bekommt inzwischen sogar international Beachtung. Eine Netz-Umschau.

Nachdem in den vergangenen Tagen viel über die Sexismus-Vorwürfe des "Stern" gegen Rainer Brüderle diskutierte wurde, ist auf Twitter eine allgemeine Sexismus-Debatte losgetreten worden. Seit dem frühen Donnerstagabend diskutieren, Männer wie Frauen, vor allem in dem sozialen Microblogging und Kurznachrichtendienst Twitter über diese Thematik. Das Schlagwort "#Aufschrei" ist längst "Trending Topic" und damit einer der momentan am häufigsten verwendeten Begriffe im Netzwerk.

Es wirkt, als sei ein Knoten geplatzt: In 140 Zeichen berichten hier Frauen aus dem gesamten Bundesgebiet im Sekundentakt von selbst erlebten "Übergriffen" und ungewollten sexuellen Annäherungen. Längst ist die Debatte losgelöst von den eigentlichen Vorwürfen gegenüber Rainer Brüderle. Stattdessen sammelt sich im Netz so ein Bild von alltäglichem Sexismus. Die geschilderten Episoden berichten vor allem von Situationen, in der jede oder jeder sich fast tagtäglich bewegt: Das Büro, die Kneipe, die öffentlichen Verkehrsmittel.

Die „Aufschrei“-Aktion war ganz spontan entstanden. Nachdem mehrere Frauen ihre Erlebnisse geschildert hatten, schlug um halb zwei Uhr nachts @marthadear vor, diese Erlebnisse unter dem Hashtag #aufschrei zu sammeln. Bis drei Uhr morgens verfolgte sie noch was Nutzerinnen sich von der Seele schrieben. Dann ging sie schlafen. Während der Nacht sammelten sich Tausende ähnliche Geschichten. „Ich hatte schon gehofft, dass sich das noch eine Weile hält. Aber dass das so explodiert, hätte ich mir nicht träumen lassen“, sagt @marthadear, die außerhalb des Internets Anne Wizorek heißt und als Kommunikationsberaterin in Berlin arbeitet. Mit der Sammlung von #aufschrei-Geschichten möchte Wizorek zunächst ein Problembewusstsein schaffen.

Vielen Männern, sei gar nicht bewusst, wie häufig das vorkommt. Und wie es vielen Frauen damit geht. „Eine Frau hat mir geschrieben und sich bedankt“, sagt Wizorek. „Sie dachte, sie sei allein mit diesem Problem. Jetzt zu sehen, wie vielen Frauen es ähnlich geht, sei richtig befreiend.“ Wizorek ist bewusst, dass die Debatte bislang ein Sturm im Wasserglas Twitter ist. Deshalb arbeitet sie mit einigen Kolleginnen, daran, die wichtigsten Tweets auf einer Internetseite zu sammeln, wo mehr Menschen sie sehen können. Damit die Debatte das Netzwerk Twitter verlässt und bei den Menschen da draußen ankommt. Wizorek weiß, dass die Diskussion wahrscheinlich nicht die eigentlichen Übeltäter erreichen wird. Aber sie hofft, dass durch das Reden so etwas wie Zivilcourage gegen Belästigung erzeugt werden kann.

Bei "Aufschrei" geht es vor allem um das Bewusstwerden von Alltagssexismus, den Anstoß einer Debatte. Aber auch um den Aufruf: "Vor Sexismus jeglicher Art muss jeder geschützt werden, egal ob Mädchen, Junge, Frau oder Mann...", wie es Twitter-Userin Alexsandrah beschreibt. Und auch der Twitterer @Weltregierung öffnet die Debatte: "Es geht vor allem um den fehlenden "Respekt gegenüber Menschen. Generell."

Neben den eigentlichen Vorwürfen und Beschreibungen der sexuellen Belästigung gegenüber Frauen steht vor allem der Umgang des sozialen Umfeldes und der Gesellschaft mit dieser Thematik in der Kritik: So prangert die Twitter-Userin Kati Kürsch all diejenigen an, "die behaupten, dass Frauen, die sich sexuell belästigt fühlen sich das nur einbilden und falsch interpretieren." Auch @hanhaiwen beschreibt eine derartige Haltung: "All die Leute die auf solche Vorfälle jemals mit einem verständnislosen „ja und?“ reagiert haben: #Aufschrei."

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Die Aufmerksamkeit, die das Thema im Netz durch 1000-ende derartiger Nachrichten erhält, scheint viele zum Denken zu bringen: "Sich bewusst zu werden, was ich alles verdrängt habe" twittert beispielsweise TosendeRebekka. "fröken von Horst", die mit ihrem Tweet gestern Abend den Hashtag, ins Leben rief, stimmt zu: "An was man sich erinnert, das man vergessen glaubte, wenn man liest, was andere schreiben." Und auch bommeljogi beschreibt dieses Erlebnis nach dem Lesen der #Aufschrei-Tweets: "Vieles selbst erlebt. Damit gelebt, als wäre es normal. Ist es aber NICHT!"

Die Aktion sorgt inzwischen sogar überregional für Resonanz. Unter dem Hashtag "#Outcry" beginnen bereits die ersten internationalen User die Debatte in den internationalen Raum zu ziehen.

Gemischte Gefühle

Die große Resonanz im Netz lässt erahnen, wie wichtig die Debatte um Grenzen und Grauzonen im sozialen Miteinander zu sein scheint. "Liebe Frauen, lasst #Aufschrei bitte keine einmalige Sache sein, sondern den Hashtag, an dem man(n) seine Alltagswahrnehmung justieren kann.", bittet beispielsweise mspro.

Nicht nur die Tweets, auch die Anzahl der Blogbeiträge zu diesem Thema wächst seit Freitagmorgen stetig an. Unter "kleinerdrei.org" berichtet beispielsweise die Bloggerin "Maike" von unterschiedlichen Begebenheiten und zeigt mit Beispielen, wie sie selbst Opfer von anzüglichen Sprüchen wurde. "Normal ist das nicht", titelt sie und schreibt: "Solche Erlebnisse prägen – dabei kann ich noch von Glück sprechen, denn mir ist keine körperliche Gewalt widerfahren. Aber die Angst bleibt und geschürt wird sie immer wieder mit alltäglichen Sexismen, die ich und viele andere Menschen – meist Frauen – auf der Straße erleben."

Ninia LaGrande wirft in ihrem Blogbeitrag unter dem Titel "Böses Mädchen" den Blick aber auch auf ein ganz anderes Grundproblem. Am Beispiel eines Freundes beschreibt sie die Situation der Männer, die sich mit dieser Debatte auseinandersetzen: "Ein Freund schrieb mir heute, er käme sich oft vor wie ein "Pro-Forma-Täter". Er sei ein Mann und deshalb eine Gefahr. Er wisse nicht, wie er sich beispielsweise benehmen solle, wenn er abends zufällig hinter einer Frau eine Straße langgehen müsse."

Ein Großteil der User im Netz, darunter viele Männer, reagieren ähnlich sensibilisiert oder gar schockiert. "Die #Aufschrei Timeline lässt mir ja schon einen Schauer über den Rücken jagen und mir wird übel..." ist vielerorts zu lesen. Doch auch der allgemeine Umgang der Stern-Redaktion mit der Debatte selbst, die die Redaktion durch ihren Beitrag ursprünglich ins Leben rief, führt zu Kritik im Netz. So twitterte die Stern-Redaktion am Donnerstagnachmittag über den offiziellen Account: "Wir müssen es konstatieren: Die Partei der Chauvis, Grapscher und Herrenreiter kommt immer noch locker über 5 Prozent. #Brüderle" Dieser, im ersten Moment wie auf FDP zugeschnittene Tweet, sorgte mit seiner Pauschalisierung für Kritik. Der "Stern" entschuldigte sich aber nach einiger Zeit: "Sorry, das war zu flapsig. Klarstellung: Damit war nicht die #FDP gemeint, sondern eine fiktive Partei der sexistischen Männer."

Dass die Thematik Zündstoff enthält, zeigt auch die Debatte unter dem Facebookbeitrag des Nachrichtenmagazins. Fast 500 Kommentare sind hier bereits unter dem Beitrag versammelt. Die Stern-Redaktion lenkt aber auch hier ein: Kritik am Umgang mit der Thematik und der redaktionellen Entscheidung des Sterns sei in Ordnung, so der Social Media Verantwortliche dort: "Aber unterscheiden Sie bitte zwischen Frau Himmelreich als Frau und und dem Bericht an sich. Denn es sind zwei unterschiedliche Themen."

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Der Twitter-User "Pant3r" fasst die Debatte und seine persönliche Haltung dazu in 140 Zeichen zusammen: "Gemischte Gefühle bei #Aufschrei. Finde es total schwer den richtigen Grad zwischen respektvollem Umgang und falscher PC zu finden."

(mit Max Muth)

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