zum Hauptinhalt
Vorsicht Cybermobbing

© dpa

Cybermobbing: Medienhelden gesucht

Präventionsprogramme gegen Cybermobbing gibt es viele. Ob sie wirken, ist fraglich. Es fehlt eine flächendeckende Strategie für Schulen.

Wer die 116111 wählt, hat Sorgen, über die er weder mit Eltern noch mit Freunden reden mag. Bei der zentralen telefonischen Beratungsstelle „Nummer gegen Kummer“ können sich Kinder und Jugendliche anonym und vertraulich Beistand holen. Durchschnittlich ein bis zwei Mal am Tag geht es dabei um Cybermobbing; rund 500 Fälle waren es im letzten Jahr. Die Geschichten, die die Berater am Telefon zu hören bekommen, ähneln sich. „Bis sich die Opfer Hilfe suchen, dauert es meist lange“, berichtet Nina Pirk, Mitarbeiterin bei „Nummer gegen Kummer“. „Weil sie sich schämen, weil sie sich fragen, was falsch ist an ihnen, weil sie denken, wenn ich stillhalte, wird es von alleine aufhören.“

Doch das tut es selten. Cyberbullying, in Deutschland eher unter dem Begriff Cybermobbing bekannt, bezeichnet ein noch recht junges Phänomen. Seit Smartphones und Laptops die Kinderzimmer erobert haben, ist Kommunikation mit Gleichaltrigen immer und überall möglich. Das hat nicht nur Vorteile. Streitereien, Machtkämpfe, Hänseleien und Intrigen, wie sie auf jedem Schulhof vorkommen, können nun jederzeit ins Netz verlagert werden.

Cybermobbing kennt viele Variationen: Belästigungen, Beschimpfungen, das Verbreiten von Gerüchten, das Hacken von Nutzerprofilen, die Androhung von Gewalt. Der Studie „Jugend, Information, Multimedia“ 2014 zufolge, in der die Mediennutzung von Jugendlichen zwischen zwölf und 19 Jahren untersucht wird, haben 17 Prozent aller Jugendlichen, die das Internet nutzen, bereits die Erfahrung gemacht, dass Falsches oder Beleidigendes online über sie verbreitet wurde. 14 Prozent geben an, dass gegen ihren Willen peinliche Videos oder Fotos von ihnen veröffentlicht wurden.

38 Prozent der Jugendlichen haben schon mal erlebt, dass in ihrem Bekanntenkreis jemand per Handy oder Internet „regelrecht fertiggemacht“ wurde. Sieben Prozent haben es selbst schon erlebt. Diese Umfragewerte halten auch einer wissenschaftlichen Überprüfung stand. Herbert Scheithauer ist Professor für Entwicklungspsychologie und Klinische Psychologie an der Freien Universität (FU) Berlin und forscht seit Jahren über Cybermobbing. „In Deutschland sind rund 17 Prozent der Schüler als Täter oder Opfer oder Täter-Opfer an Cybermobbing beteiligt“, sagt er. Erwiesen ist auch, dass es große Überschneidungen gibt zwischen Schulhofmobbing und Cybermobbing. „Oft ist es so, dass Opfer von traditionellem Schulhofmobbing später im Internet zu Tätern werden“, erklärt Scheithauer.

Depressionen, Angststörungen, Wut

Den Opfern geht es auch lange nach der Mobbingattacke schlecht. „Wir haben die unterschiedlichsten negativen Folgen beobachtet: Depressionen, Angststörungen, Wut, aggressives Verhalten, psychosomatische Beschwerden wie Kopfschmerzen oder Bauchschmerzen, Schulphobie, posttraumatische Belastungsstörung, bis hin zu Suizidgedanken und Suizidversuchen.“ Dass Präventionsmaßnahmen dringend nötig sind, darüber sind sich Eltern, Pädagogen, Politiker und Wissenschaftler einig. Tatsächlich ist in den letzten Jahren viel passiert. Vereine, Landesmedienanstalten und Krankenkassen haben regionale Präventionsprogramme und Schulungskonzepte entwickelt.

Dutzende Pilotprojekte wurden ins Leben gerufen, an tausenden Schulen haben Projekttage für Schüler stattgefunden. In Berlin hat das Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (Lisum) mehrere Fachtagungen zum Thema durchgeführt. Außerdem stellt das Lisum Broschüren und Lernmaterialien bereit, organisiert Workshops für Eltern und Fortbildungen für Lehrer. Aber reicht das? Und hilft das überhaupt? Die wenigsten Präventionsprogramme sind wissenschaftlich auf ihre Wirksamkeit überprüft.

„Das ist ein riesiges Problem“, sagt Psychologe Scheithauer. „Denn wir wissen inzwischen aus einer Vielzahl von Studien, dass Prävention auch schaden kann, wenn sie falsch gemacht wird.“ Im schlimmsten Fall zeigt man Jugendlichen sogar, wie sie noch besser und effektiver mobben können. Scheithauer hat deshalb vor drei Jahren zusammen mit seinen Mitarbeitern eine Unterrichtseinheit für den Ethikunterricht entwickelt, die über ein halbes Jahr angelegt ist und bei der es nicht nur um Cybermobbing-Prävention, sondern auch um allgemeine Medien- und Sozialkompetenzen ging. An etlichen Berliner Schulen wurde das Curriculum „Medienhelden“ damals getestet und evaluiert, mit sehr positiven Ergebnissen.

In Deutschland kocht jeder weiter sein eigenes Süppchen

Hatten die Schüler sich im Ethikunterricht mehrere Monate lang mit dem Thema befasst, wurden anschließend weniger zu Cybermobbing-Opfern oder -Tätern als in Vergleichsklassen ohne Curriculum. In Finnland hat man sich deshalb vor Jahren entschieden, ein wissenschaftlich geprüftes Präventionsprogramm flächendeckend an allen Schulen des Landes einzuführen. Seitdem gehen Mobbing und Cybermobbing nachweislich zurück. In Deutschland kocht jeder Akteur weiter sein eigenes Süppchen. Pilotprojekte werden erst mühsam angeschoben und dann wieder auf Eis gelegt, sobald die Fördergelder ausgelaufen sind.

Das Bundesfamilienministerium unterstützt hauptsächlich die Veröffentlichung von Infomaterialien im Internet, zum Beispiel den Medienratgeber „Schau hin! Was Dein Kind im Internet macht“ und die Broschüre „Ein Netz für Kinder – Surfen ohne Risiko?“. Außerdem finanziert das Ministerium das neu gegründete „I-KiZ – Zentrum für Kinderschutz im Internet“ in Berlin. Im Juni wird die Seite www.jugend.support online gehen. Sie richtet sich an Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren und soll Hilfe bei Cybermobbing, sexueller Belästigung, Selbstverletzung oder Gewalt anbieten. Am Telefon melden sich auch Mitläufer und Täter.

„Unbedachtheit spielt eine große Rolle. Viele wollen sich für irgendetwas rächen, stellen dabei aus Wut oder aus Versehen etwas ins Netz“, sagt Nina Pirk. „Erst im Nachhinein werden ihnen die Konsequenzen klar.“ Viele Jugendliche haben dann Angst vor Strafe, vor allem, wenn bereits die Eltern eingeschaltet wurden. Auch die Opfer fürchten sich teilweise vor den Reaktionen ihrer Eltern. Denn oft suchen die sofort panisch den Kontakt zu den Täter-Eltern. Den Opfern ist das extrem unangenehm. „Sie nehmen es als einen weiteren Kontrollverlust wahr, wenn Eltern oder Lehrer gegen ihren Willen handeln“, sagt Pirk. Sie rät Eltern dazu, Ruhe zu bewahren. Gemeinsam sollte man dann nach Strategien suchen, „um dem Opfer das Gefühl der Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit zu nehmen“. Mögliche Maßnahmen: Täter können blockiert, Kontakte abgebrochen, Chats archiviert, Vertrauenslehrer informiert oder die Polizei eingeschaltet werden. Was genau zu tun ist, müsse man von Fall zu Fall entscheiden, sagt Pirk. „Die eine Lösung gegen Cybermobbing gibt es nicht.“

Zur Startseite