zum Hauptinhalt
293081_0_ae130737.jpg

© Paul Schirnhofer

Gefangener im Netz: Game over für Computerspielsucht

Beinahe hätte er es mit dem Leben bezahlt: 18 Stunden saß er täglich vor dem Computer. Und spielte, spielte, spielte. Es war längst kein Spaß mehr, er war ein Gefangener im Netz. Wie der 32-jährige Hyke van der Heijden süchtig wurde – und wie er schließlich davon loskam.

Leere Milchtüten waren wichtig, wenn Hyke van der Heijden an seinen Computern spielte. Die Behälter aus Pappe standen griffbereit in der Nähe, damit er nicht unterbrechen musste, um zur Toilette zu gehen. Damit er ohne Unterlass Burgen belagern, Autorennen fahren oder seine Truppen durch eine virtuelle Zauberwelt kommandieren konnte, 18 Stunden täglich, Tag um Tag, Nacht für Nacht, manchmal an mehreren Rechnern gleichzeitig. Es war kein Spiel mehr, sagt van der Heijden, 32 Jahre, „es war eine Sucht“. Beinahe hätte sie ihn das Leben gekostet.

In der Entzugsklinik „Wild Horses Center“, untergebracht in einem historischen Kaufmannshaus, Sint Nicolastraat 16, Amsterdam, läuft an diesem Nachmittag eine Therapierunde. Jeder, der in diesem Halbkreis sitzt, war süchtig – nach Heroin, nach Kokain oder Alkohol. Seit einigen Monaten werden hier auch Abhängige behandelt, die ohne den Kick aus dem Computer nicht mehr auskommen. Nachdem das Angebot der privaten Firma Smith  & Jones bekannt wurde – das erste dieser Art in Europa –, gingen hunderte E-Mails und Anrufe verzweifelter Angehöriger ein.

Lange Zeit wurde das Problem unterschätzt, doch nun wird deutlich, welche Größenordnung es angenommen hat. Nach Meinung des Hamburger Suchtforschers Rainer Thomasius sind rund zehn Prozent der Schüler in Deutschland abhängig. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Sabine Bätzing (SPD), geht davon aus, dass drei Prozent aller Internetnutzer mehr als zehn Stunden täglich im Netz spielen. Eine Studie der Berliner Charité schätzt die Dunkelziffer der Onlinekranken in Deutschland auf mehr als 100 000 Fälle.

„Wie viele es wirklich sind, weiß man nicht. Viele Betroffene wollen nicht wahrhaben, dass das Problem existiert“, klagt Gerald Hüther, Neurobiologieprofessor an der Universität Göttingen. Es handelt sich um ein globales Phänomen: Laut einer Untersuchung von Wissenschaftlern der Universität Iowa sind rund drei Millionen US-Bürger von der Sucht nach Computerspielen betroffen; in Südkorea, dem internetverrücktesten Land der Welt, werden jährlich Zehntausende klinisch behandelt. Mehrere Fälle, in denen sich junge Erwachsene zu Tode spielten, sind in Asien dokumentiert.

„Alien“ wurde Hyke van der Heijden von seinen letzten Freunden in der wirklichen Welt genannt, weil er so bleich war und abgemagert. Er vergaß zu essen. In der Therapiegruppe berichtet er aus einer Zeit, als er ausschließlich virtuelle Kontakte zu anderen pflegte, zu Spielern, die er nur unter Decknamen kannte, die aber rund um die Uhr zur Verfügung standen. Wenn sich die Kontrahenten in Asien schlafen legten, wachten die Gegner in Amerika gerade auf. Das Spiel kannte keine Unterbrechung für Hyke van der Heijden, den Computerjunkie.

Nach Tagen am PC schmerzten seine Hände und waren so geschwächt, dass er nicht einmal ein Wasserglas halten konnte. Um schlafen zu können, nahm er Schmerztabletten, als wären es Drops. Dazu rauchte er Marihuana, manchmal 30 Joints am Tag. Dass sein bester Freund bei einem Autounfall ums Leben kam, berührte ihn wenig, denn er hatte es mit einem besonders bösen König im Onlinespiel zu tun. Der Freund befand sich auf dem Rückweg von einer Verabredung, zu der Hyke nicht erschienen war. Eben wegen dieser Probleme mit dem bösen König. Van der Heijden versagt an dieser Stelle seiner Erzählung die Stimme. Er entschuldigt sich und wischt sich Tränen aus den Augenwinkeln.

Nach einem Zusammenbruch kam er ins „White Horses Center“ von Amsterdam, als körperliches und psychisches Wrack. Therapeuten beobachten, dass Spielsüchtige ähnliche Symptome aufweisen wie Heroinabhängige: Erbrechen, Übelkeit, Schweißausbrüche. Die Bilder sind erschreckend: Manche hocken mit geschlossenen Augen auf einem Stuhl und tippen auf einer Tastatur, die nur in ihrem Kopf existiert.

„Computerspiele werden zu einer der wichtigsten Drogen des 21. Jahrhunderts“, prophezeit Steven Noel-Hill, 50, ein englischer Therapeut, der im „White Horses Center“ arbeitet. „Und uns bereitet große Sorge, dass manche Patienten erst acht Jahre alt sind.“ Er sitzt in seinem Büro und blättert in Unterlagen, in den Hilferufen für Menschen, die sich in einer virtuellen Welt verloren haben und den Notausgang alleine nicht mehr finden. Thomas aus Hamburg zum Beispiel schreibt, dass sein 15-jähriger Bruder seit Tagen ohne Unterlass spielt und jeden anschreit, der droht, den Rechner auszuschalten. Ein Schweizer Vater berichtet, dass sein Sohn seit Tagen nicht mehr ansprechbar ist und keine Mahlzeit anrührt. Ein Spieler bittet um Rat, weil er nach mehr als 100 Tagen Dauereinsatz in den Kulissen des Killerspiels „Counterstrike“ merkt, dass er seinen Beruf, seine Freunde und seine Existenz verliert, und trotzdem jeden Morgen zu einer neuen Mission aufbricht, weil der Zwang so stark ist.

Die Süchtigen sehnen sich nach dem Computerspiel wie ein Trinker nach dem nächsten Schluck. Therapeut Noel-Hill berichtet vom Fall eines 16- jährigen Jungen aus Hannover, den seine Eltern in den Zug nach Amsterdam gesetzt hatten, ohne Gepäck und ohne Rückfahrschein. Der Junge hielt die „Entgiftungsphase“, in der die Spielkranken von einem Rechner ferngehalten werden, nicht durch, floh aus der Klinik, stahl Geld und steuerte das nächstgelegene Internetcafé an. Dort fand man ihn nach zwei Tagen wieder.

Das Computerspiel gibt den Süchtigen ihre Dosis Dopamin, einen Botenstoff, der ausgeschüttet wird, wenn Nervenzellen im „Belohnungszentrum“ des Hirns aktiviert werden. Das Dopamin sorgt dafür, dass endogene Opiate freigesetzt werden, die einen Glücksrausch auslösen wie Opium oder Heroin. Außerdem bewirkt es, dass die beim Computerspiel aktivierten Nervenverbindungen, man kann sagen: fester werden. Was klingt wie der Plot eines Science- Fiction-Romans, gilt als neuester Stand der Forschung: Exzessives Computerspielen verändert die Struktur des Gehirns. „Man muss sich das vorstellen wie Feldwege, aus denen Straßen und schließlich Autobahnen werden“, erklärt der Göttinger Hirnforscher Hüther. „Wenn man einmal auf dieser Autobahn ist, fällt es schwer, eine Ausfahrt zu finden.“

Die Suchtgeschichte des Hyke van der Heijden begann auf dem Schulhof, in den 80er Jahren, als die Computer beim Laden der Daten noch wie Mopeds knatterten, Disketten aussahen wie Schiefertafeln und Joysticks große rote Knöpfe aufwiesen. Seine Familie war nach Belgien umgezogen, und wenn die anderen Kinder ihn, den Niederländer, in der neuen Schule hänselten, zog er sich auf ein Surfbrett im Rechner zurück und floh vor einem Hai. In den nächsten Jahren nahm sein tägliches PC-Pensum stetig zu, ohne dass Eltern oder Freunde davon Notiz nahmen. Wenn die anderen Teenager am Wochenende in der Disko tanzten, blieb Hyke van der Heijden lieber daheim und bekämpfte außerirdische Lebensformen. Und es sollte schlimmer werden, als die Ära der Onlinerollenspiele begann.

Fachleute warnen besonders vor der Wirkung, die Spiele wie „World of Warcraft“ auf die Gemüter labiler Jugendlicher haben können. Die Teenager schaffen sich in der virtuellen Welt ein Alter Ego, das so stark ist, so unangreifbar, wie sie im wirklichen Leben gerne wären. Wer im Alltag nicht klarkommt, wer in der Schule aneckt, oft mit den Eltern streitet oder keine Freundin findet, schafft sich im Netz einen Avatar, der alle Probleme mit dem Schwert erledigt. Wer in der Realität selten dazugehört, genießt die Illusion einer Gemeinschaft von Los Angeles bis Wellington. Man ist gemeinsam einsam.

Weil online gespielt wird, rund um die Uhr, darf der Spieler nicht abschalten, denn andere Akteure könnten der Spielfigur etwas abnehmen. „Im Extremfall führt das zu einer Entfremdung des Kindes von sich selbst“, warnt Neurobiologe Hüther. Das Hirn verlernt, mit Herausforderungen des täglichen Lebens klarzukommen. Die Realität des Computers und der normale Alltag verweben sich. In Amsterdam erzählt man die Geschichte eines Jugendlichen, der aus Verzweiflung, dass seine Eltern den Computer wegschlossen, versuchte, sich mit einem Kabel des Rechners zu erhängen.

Mit 19, als Student, wurde van der Heijden bewusst, dass er ein Problem hatte. An einer Privatuniversität von Brüssel nutzte er eine Freistunde, um im BMW seines Vaters nach Holland zu rasen und Haschisch zu kaufen. 180 Kilometer, hin und zurück, in einer Stunde. Pünktlich zur nächsten Vorlesung saß er wieder im Hörsaal. „Ich fuhr wie in meinem Autorennspiel“, erzählt er. Nach anderthalb Jahren flog er von der Uni, weil er nichts anderes mehr tat, als im Internet gegen fremde Imperatoren anzutreten. Weil er sich ärgerte, wegen der vermeintlich langsameren niederländischen Server zu verlieren, gründete er eine Firma. Er stellte eine Seite online mit einem Forum für exzessive Spieler wie ihn. Und er mietete einen Server.

Gerade lief die Hochphase der Dotcom-Illusion, in der jeder Investor glaubte, zügig reich werden zu können, sofern die Geschäftsidee irgendwie mit dem Thema Internet zu tun hatte. Für van der Heijden war es nicht schwer, Geldgeber zu finden. Sagenhafte 15 Millionen Gulden investierte ein niederländischer Telekommunikationskonzern, nachdem van der Heijden einen Businessplan für sein Spielforum präsentiert hatte, den er auf ein paar Seiten gekritzelt hatte. Mit 22 besaß Hyke van der Heijden, der spielsüchtige Marihuanafreund, ein eigenes Unternehmen mit mehr als 30 Angestellten und wenig Zeit. Was nicht mit den Herausforderungen der Geschäftswelt zu tun hatte, sondern damit, dass er sich dank des schnellen Servers nun endlich konkurrenzfähig fühlte im Kampf gegen die Onlinezocker aus Übersee.

Anderthalb Jahre später, als elf Millionen Euro ausgegeben waren, erkannte er, dass seine Niederlagen keine technischen Ursachen hatten, und verkaufte seinen Firmenanteil. Als das Unternehmen Konkurs ging, befand sich van der Heijden auf einer Reise um die Welt. Was an seinem Spielverhalten nichts änderte, denn er hatte seinen Laptop im Gepäck und hockte auf den Fidschi- Inseln, Hawaii oder in Sydney in Hotelzimmern. In Las Vegas überkamen ihn Selbstmordgedanken. „Ich dachte, ich hätte alles, was ich zum Glück brauchte: Geld, meinen Rechner, Zeit“, sagt er. „Aber ich merkte, dass ich gar nichts besaß.“

Zurück in Europa, rückten auch seine Eltern, seine Geschwister und seine Freundin schließlich von ihm ab. Van der Heijden hörte vom „Wild Horses Center“ und begann seine Therapie, die eineinhalb Monate dauerte. Maximal 16 Patienten können betreut werden; das Konzept sieht vor, die Wärme einer intakten Familie zu schenken. Eine heimelige Atmosphäre, die den Kranken hilft, wieder zu erlernen, wie soziale Kontakte funktionieren.

„Spielzone“ nennt sich das Programm, das die „Gamer“ durchlaufen, wie sie im Sprachgebrauch der Klinik heißen. Nach einer Woche, in der er nicht in die Nähe eines Computers dufte, begann der Tag für van der Heijden im Fitnessstudio, um seinen Körper zu reanimieren. Es folgte ein achtstündiges Therapieprogramm. Gefühle und Ängste, die jahrelang weggespielt wurden, wurden auch in der Gruppe diskutiert. „Wer sich auf die Frage ‚Wie geht es dir?‘ in die Antwort ,gut‘ flüchtete, wurde auf kleiner Flamme gegrillt“, erzählt van der Heijden. Im Laufe der nächsten Wochen lernte er, sich wieder in der wirklichen Welt zurechtzufinden. Mit Menschen zu kommunizieren, ohne dafür eine Tastatur zu benötigen.

Heute hat er sein Leben neu sortiert, arbeitet im Unternehmen der Eltern, die mehrere große Fitnessklubs betreiben; er hat geheiratet und ist Vater einer kleinen Tochter. Er hat sich auch einen neuen Rechner gekauft, denn wie soll im Jahr 2009 ein Leben ohne Computer funktionieren? Von seinem „sehr simplen Laptop“ aber sind alle Spiele gelöscht.

Er verabschiedet sich von der Gruppe und dem Therapeuten Noel- Hill, zündet sich eine Zigarette an und spaziert durch die Straßen von Amsterdam. Wenn er an einem Internetcafé vorbeikommt, beschleunigt er seine Schritte. Er muss der Versuchung widerstehen. Wenige Minuten in der „World of Warcraft“ genügen, sagt Hyke van der Heijden, um ihn in eine Art Komazustand zu versetzen, aus dem er erst zwölf Stunden später wieder erwacht.

In einer Gasse schlendert er an einem Plattenladen vorbei, als ein junger Mann herausstürmt und ihn begrüßt. Sein Gesicht ist fahl, seine Augen liegen in Höhlen, er wirkt fahrig. „Früher haben wir manchmal im Netz zusammen gespielt“, sagt van der Heijden, nachdem sie sich verabschiedet haben. Sein Bekannter hat gerade seine Freundin und seinen Job verloren. Er spielt einfach zu viel, kommt aber nicht davon los. „Wenn ich darüber nachdenke“, sagt Hyke van der Heijden, „dann kenne ich einige Leute, die dringend in eine Klinik müssten.“

Stefan Krücken[Amsterdam]

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false