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Das blaue Licht: Polizeimeldungen sind ein wichtiges Genre auch bei Tagesspiegel.de. Immer wieder gibt es darüber Debatten, ob die ethnische Herkunft von Tätern und Verdächtigen genannt werden soll oder nicht.

© dpa

Journalistische Ethik: Soll die Nationalität von Verdächtigen und Tätern genannt werden?

Nach dem gewaltsamen Tod einer 15-Jährigen in Kandel wird diese Frage erneut gestellt. Hier noch einmal ein Debattenbeitrag von 2013, der eine liberale Haltung zum Thema verdeutlicht.

Von Markus Hesselmann

Zeit, dass wir uns hier mal gemeinsam Gedanken über eine Frage machen, die in unserer Community und anderswo im Internet immer wieder die Gefühle aufwallen lässt: Soll in Polizeimeldungen die Nationalität oder gar die ethnische Herkunft eines Täters oder Verdächtigen genannt werden oder nicht? Zuletzt entwickelte sich einmal mehr eine lange Debatte, weil unser Polizeireporter Jörn Hasselmann in einem Text über einen versuchten Raub, bei dem sich das Opfer wehrte und einen der Angreifer erstach, diesen Angreifer als "Deutschen" bezeichnet hatte.

Unser Leser "akor" begrüßt in seinem Kommentar die Nennung. Er hoffe, dass dadurch die "ach so braven Einheimischen endlich mal erkennen, dass es nicht nur Kriminelle aus der Schiene Migrationshintergrund gibt!". Zunächst einmal freuen wir uns über jede zustimmende Wortmeldung - wie auch über kritische Kommentare. Trotzdem möchte ich dringend klarstellen, dass ein Reporter nicht in pädagogischem, sondern in publizistischem Auftrag unterwegs ist. Das Ziel einer Polizeimeldung ist es zunächst einmal nicht, unseren braven oder nicht braven, einheimischen oder nicht einheimischen Mitbürgern tief greifende, allgemeingültige Erkenntnisse zu vermitteln. Natürlich kann man sich einen analytischen Beitrag vorstellen, in dem unser Polizeiexperte analysiert, ob bestimmte Taten vor allem von bestimmten Tätergruppen verübt werden. Das kann durchaus zur Wahrheitsfindung beitragen. Und zur Definition dieser Tätergruppen kann dann neben anderen Aspekten eben auch die Herkunft der Täter gehören. Das ist aber sicherlich nicht das Erkenntnisziel einer schlichten Polizeimeldung.

Warum nennen wir also überhaupt die Herkunft eines Täters oder Verdächtigen, im vorliegenden Fall die eines "Deutschen", sonst aber auch die diverser Einwanderergruppen? Zunächst einmal, weil es schlicht der Job eines Polizeireporters ist, so viel Informationen wie möglich zu einer Tat, den Tatverdächtigen und den Hintergründen zu recherchieren. Natürlich erwächst daraus eine Verantwortung, aber kein erzieherisches Ziel, in welcher Richtung auch immer. Wir wollen Sie, liebe Leserinnen, liebe Leser, weder zur politischen Korrektheit anhalten, noch uns - wie es derzeit schwer in Mode zu sein scheint - am politisch inkorrekten Tabubruch der Marke "Man wird doch wohl mal sagen dürfen..." erregen.

Unsere User-Community ist gespalten: Die einen bestehen darauf, dass die Herkunft der Täter genannt wird, die anderen fordern, darauf zu verzichten. Vielleicht hilft ein Blick in die Statuten des deutsche Presserats, der Freiwilligen Selbstkontrolle der Medien: Zum Thema "Diskriminierungen" heißt es in Ziffer 12: "Niemand darf wegen seines Geschlechts, einer Behinderung oder seiner Zugehörigkeit zu einer ethnischen, religiösen, sozialen oder nationalen Gruppe diskriminiert werden." Hier wird eine schlichte Richtschnur niedergelegt, die menschliches Handeln ohnehin bestimmen sollte, und damit auch unsere Arbeit. Im publizistischen Kontext bedeutet dies vor allem: Wir sollten nicht verallgemeinern, keine Vorurteile verbreiten, keine Klischees. Wir sollten Bevölkerungsgruppen nicht pauschal herabwürdigen. Das gilt aber nicht nur für journalistische Beiträge auf Tagesspiegel.de, sondern auch für Leserkommentare. Entsprechend schalten unsere Moderatoren solche Leserkommentare nicht frei. Das hat mit "Zensur" - einem in diesem Zusammenhang häufig verwendeten Vorwurf - nichts zu tun, sondern mit Verantwortung.

Die zu Ziffer 12 gehörende "Richtlinie 12.1" des Presserats ist allerdings in der Praxis nicht wirklich hilfreich: "In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht", heißt es da. Wer sich darauf konsequent einlässt, verstrickt sich aus meiner Sicht erst recht ins Knäuel der Vorurteile. Wer würde schon letztgültig feststellen wollen, welche Taten nun einen "begründbaren Sachbezug" zu einer Religion oder einer Ethnie haben? Ist der Griff zum Messer, ein Raub, ein Einbruch aus einer Religion oder einer Ethnie ableitbar? Sind es bestimmte Arten von Beziehungstaten? Grundsätzlich sicher nicht. Sie können es aber sein, das zeigt schon die schwierige Diskussion darüber, wann eine Beziehungstat denn nun ein so genannter Ehrenmord ist und wann nicht. Ich würde deshalb dafür plädieren, so viele Informationen zu Taten, Tätern und Hintergründen wie möglich zur Verfügung zu stellen, dazu die Einschätzungen von Ermittlern und Zeugen, so dass sich die Leserinnen und Leser selbst ein Bild machen können. Das widerspricht unserer Verantwortung nicht. Die Nationalität eines Täters oder Verdächtigen in einem konkreten, einzelnen Kriminalfall zu nennen, ist noch lange keine Verallgemeinerung. Nach langen Debatten schreibe ich hier nun bewusst "Nationalität" und nicht "ethnische Herkunft", denn diese ist keine wirklich überprüfbare, recherchierbare Kategorie und gerade für diesen schwierigen Kontext viel zu schwammig. Die "Nationalität" dagegen ist in den allermeisten Fällen objektiv überprüfbar.

Das heißt nun nicht, dass wir selbst entsprechende Richtlinien für unsere Kolleginnen und Kollegen beim Tagesspiegel vorgeben. So funktioniert der Tagesspiegel - zum Glück - nicht. Es gibt auch bei uns in der Redaktion zu diesem Thema unterschiedliche Meinungen. Wir arbeiten ohne päpstlichen Index, aber auch ohne Gebote auf Steintafeln, was denn nun stets zu schreiben wäre. Deshalb werden wir Ihnen auch in Zukunft sowohl Polizeimeldungen zumuten, in denen Angaben zur ethnischen Herkunft eines Täters oder Verdächtigen gemacht werden, als auch solche, in denen dies nicht so ist. Letzteres kann daran liegen, dass wir die Information schlicht nicht herausgefunden haben oder im speziellen Fall tatsächlich für belanglos halten. Unsere Reporter und Redakteure haben dabei größtmögliche Freiheit.

Ich persönlich denke, dass unser Journalismus in Deutschland oft viel zu paternalistisch ist. Wir trauen unseren Leserinnen und Lesern zu wenig zu. Die Interaktivität des Internets, das schnelle und umfassende kritische Feedback in den Foren gibt mir die Hoffnung, dass wir von diesem hohen Ross herunterkommen.

Dieser Text war Teil einer 19-teiligen Serie von Beiträgen zu Debatten, die unsere Community beschäftigen. Der Beitrag wurde seit seiner Erstveröffentlichung mehrfach wieder zur Diskussion gestellt, zum Beispiel in Social Media. Die Debatten dort haben den Autor davon überzeugt, in der Überschrift und im Text nicht mehr die Nennung der "ethnischen Herkunft", sondern der "Nationalität" zur Diskussion zu stellen. Warum, wird nun auch oben im Text erläutert. Ebenfalls ergänzt wurde in der Überschrift der Begriff "Verdächtige", damit es auch dabei nicht zu Missverständnissen kommt.

Und jetzt sind Sie wieder dran, liebe Leserinnen, liebe Leser. Was denken Sie? Halten Sie meine Argumente für schlüssig? Sind Sie anderer Meinung? Soll die Herkunft der Täter oder Verdächtigen in Polizeimeldungen genannt werden oder nicht? Kommentieren und diskutieren Sie mit. Nutzen Sie dazu bitte die einfach zu bedienende Kommentarfunktion etwas weiter unten auf dieser Seite.

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