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Soziale Netzwerke: Die Twitter-Diät

Fünf Journalisten haben in Frankreich ein Medienexperiment gestartet. Bis Freitag wollen sie sich in einer Hütte auf dem Land nur von medialer Schonkost ernähren. Ihre Diät erlaubt nur den Konsum von Nachrichten, die über Twitter oder Facebook verbreitet werden.

Von Anna Sauerbrey

Die Top-Nachrichten in Frankreich am Dienstag? Benjamin Muller tippt unter anderem auf den Streik bei der französischen Bahn und den Rückzug eines US-Flugzeugträgers von Haiti. Nicht schlecht, aber auch nicht ganz. Ganz oben steht auf den großen französischen Nachrichtenseiten an diesem Dienstag der Beginn des Concorde-Prozesses.

Eigentlich gehört Benjamin Muller zu den Experten für die Nachrichtenagenda. Er ist Journalist und arbeitet für den öffentlichen französischen Radiosender France Info. Zurzeit aber sitzt Muller mit vier anderen Journalisten in einer Hütte irgendwo im ländlichen Périgord, abgeschnitten von allen klassischen Medien. Sein einziger Zugang zur Welt außerhalb der Hütte: Twitter und Facebook. So wollen es die Spielregeln, die sich die fünf Journalisten im Zuge des Selbstversuchs selbst auferlegt haben. Das Regelwerk der informationellen Selbstbeschneidung ist ausgefeilt. Ganz verzichten die Journalisten aber nicht auf professionelle Medien. So ist es etwa erlaubt, Links zu verfolgen, die getwittert oder gepostet werden und auf die Seiten von Zeitungen, Fernseh- oder Radiosendern führen. Die Homepages dieser Medien dürfen allerdings nicht besucht werden.

Suchmaschinen setzen längst auf soziale Netzwerke als Quelle

Bei dem Experiment, das die Medienprofis am Montag gestartet haben und noch bis Freitag betreiben wollen, geht es um die Frage, welchen Ausschnitt der Realität man erlebt, wenn man auf den Konsum jeglicher klassischer Informationsquellen verzichtet. Was passiert, wenn man sich medial lediglich von der Kost der sozialen Netzwerke ernährt, also nur das konsumiert, was die eigenen Kontakte im Netz einstellen, weiterleiten und diskutieren? Die großen Suchmaschinen haben die Welt der individuellen Kurznachrichten längst als Informationsquelle entdeckt und investieren viel Geld, um die Informationen auf Facebook und Twitter zu durchsuchen und zu hierarchisieren. Doch reichen sie auch allein schon zur Orientierung?

Gezielt in die Irre geführt

Den fünf Journalisten in der Hütte scheint die Orientierung im Dschungel der Tweets und Posts noch schwer zu fallen. Anne-Paul Martin schreibt im gemeinsamen Blog der Gruppe, sie habe erst einmal unter ihren Twitter-Kontakten „aufgeräumt“ und versucht, die Versender der Nachrichten, die sie nicht persönlich kennt, zu klassifizieren. Herausgekommen sei dennoch nur eine weiche Mischung aus Subjektivem und Objektivem. Nicolas Willems berichtet, dass die Aufmerksamkeit für das Projekt, inzwischen groß ist. Die fünf treten regelmäßig auf ihren Heimatsendern auf und sorgen dafür, dass sie in ihrer Hütte nicht vergessen werden. Das hat offenbar auch zur Folge, dass einige Twitterer versuchen, die Klausurierten ganz gezielt mit Falschmeldungen zu irritieren. Benjamin Muller wiederum kommt schon am zweiten Tag zu dem Zwischenfazit, dass ihm Twitter und Facebook auf die Dauer nicht ausreichen, ein für einen Nachrichtenjournalisten nicht allzu überraschender Schluss.

Nicht umsonst haben die fünf ihrem Experiment wohl den Titel „Huis clos sur le net“ gegeben, „geschlossene Gesellschaft im Netz.“ Ein Stück von Sartre trägt denselben Titel. Sartres „geschlossene Gesellschaft“ ist extrem negativ besetzt. Szenerie des Dramas ist die Hölle, die Beziehungsnetze zwischen den drei dort anwesenden Personen ersetzen die üblichen physischen Qualen. Ob und wie übel ihnen ihre sozialen Netze zugesetzt haben, werden die fünf am Freitag berichten, wenn sie den Schleier lüften.

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