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Kann man glatt übersehen: Eine europäische Grenze, hier Deutschland-Polen.

© Georg Ismar

Reisen durch Europa: Grenzen im Schlaf passieren

Keine Checkpoints, Stempel oder Bestechungsgeld: Reisen in der EU sind leichter als Reisen in arabischen Staaten. Auch Araber träumen von solch einer Einheit.

Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich beruflich in einem anderen EU-Land zu tun. Da ich im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis für Deutschland und eines Reisepasses für Flüchtlinge bin, kann ich mich innerhalb der sprachlich und kulturell so unterschiedlichen 28 EU-Staaten frei bewegen. Für meine Reise in jenes Land benötigte ich also weder ein Einreisevisum noch musste ich lange allerlei offizielle Papiere und persönliche Dokumente zusammensuchen. Und das, obwohl ich laut meinem Flüchtlings-Reisepass ein Staatenloser bin. Alles, was ich brauchte, waren dieser Reisepass und meine gültige Aufenthaltserlaubnis.

Schreck an der Grenze

Von Berlin aus ging es nachts mit dem Bus los. Es sollte meine erste Reise außerhalb Deutschlands sein, seitdem ich vor fast vier Jahren hierhergekommen war. In der Hoffnung, mir die lange und anstrengende Fahrt etwas leichter zu vertreiben, hatte ich einen Roman mitgenommen. Und da mein Sitznachbar nicht gerade gesprächig war, hatte ich die ersten Kapitel tatsächlich noch vor der zweiten Fahrpause zu Ende gelesen. Irgendwann wurden meine Augen immer schwerer, bis ich schließlich in Morpheus’ Arme sank.

Als Nächstes weiß ich nur, wie mich mein Sitznachbar an der Schulter packte, um mich aufzuwecken. Wir hatten soeben die deutsch-tschechische Grenze passiert. Noch schlaftrunken ließ mich dieser Satz – „Wir haben die Grenze passiert!“ – aufschrecken. Mit einem Mal schossen mir unzählige Gedanken durch den Kopf: Wie konnte es nur sein, dass wir so einfach die Grenze überquert hatten? Wo sind die Stacheldrahtzäune? Und wo die Minenfelder? Wo waren die Dutzenden Checkpoints hin verschwunden? Und warum sehe ich keine schwer bewaffneten Soldaten, die die Reisenden in Angst und Schrecken versetzen? Werden wir denn gar nicht in einer langen Schlange darauf warten, bis wir an der Reihe sind, damit man uns einen Stempel in unseren Pass drückt?

Komplizierte Reisen, gefährliche Reisen

Mit einem Schluck kaltem Kaffee hielt ich mein Gedankenkarussell für einen Moment an und sprang einige Jahre in die Vergangenheit zurück. Bevor ich nach Deutschland kam, war ich fast vier Jahre lang zwischen zwei arabischen Ländern und der Türkei hin und her gereist. Diese Grenzen sind gefährlich. Laut Syrischer Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden in den vergangenen acht Jahren 410 syrische Zivilisten, darunter 75 Minderjährige und 35 Frauen, von türkischen Grenzsoldaten getötet. Auf der Flucht vor dem Tod unternahmen sie alle den Versuch, die Grenze zur Türkei zu passieren. Ja, die Türkei hat Millionen Kriegsflüchtlinge aufgenommen. Das gibt dem Land freilich nicht das Recht, Flüchtlinge zu töten.

Zig Papiere, Dutzende Dokumente

Jedes Land, das ich bisher besuchte, ist mir mit einer eigenen komplizierten Geschichte in Erinnerung geblieben. Dabei geht es jedes Mal um zig Papiere, Dutzende Dokumente, unzählige Sicherheitsüberprüfungen und jede Menge Bestechungsgelder. Der syrische Reisepass ist einer der schwächsten Reisepässe überhaupt: Im Reisepass-Ranking belegt er Platz 196 von 199 nach Jemen und Somalia, er bietet die wenigsten Reisefreiheiten. So wurden auch die meisten Visumanträge, die ich in meinem Leben gestellt habe, ohne Angabe von Gründen abgelehnt. Nur zwei der insgesamt 22 arabischen Länder erteilten mir die Erlaubnis zur Einreise – und auch das erst nach einem jeweils ausgesprochen langwierigen, nervenaufreibenden Prozedere. Dass ich syrischer Staatsbürger bin und mich mit diesen Ländern immerhin eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Geschichte und mehr oder weniger eine gemeinsame Religion und Kultur verbindet, macht das Ganze nur umso bemerkenswerter.

Mauern aus Stahl, Hass und Angst

Den Traum von der arabischen Einheit träumen wir Araber schon seit mehr als fünfzig Jahren. Und alles, was es zu dieser Einheit braucht, ist eigentlich vorhanden – bis auf den Willen der Machthaber und Diktatoren, von denen wir regiert werden. Unser Traum ist eine Union, die uns so miteinander vereint wie die europäische Union. Eine Union mit ähnlicher Innen- und Außenpolitik der Mitgliedsstaaten, die zusammen eine große Wirtschaftsmacht bilden. Ein Verbund, der international hoch angesehen ist und dessen Bürger sich über die Staatsgrenzen hinweg sicher, einfach und frei hin- und herbewegen können, nachdem alle Mauern aus Stahl, Hass und Angst gefallen sind.

Als die Nachbarländer Syriens angesichts der vielen Flüchtlinge 2015 ihre Grenzen dichtmachten, wurden Letztere einfach ihrem Schicksal überlassen. Einige von ihnen starben in der Wüstenregion nahe der jordanischen Grenze den Hitzetod. Dutzende andere erfroren bei ihrem Versuch, über die Berge in den Libanon zu flüchten. Was die Einreise in die Staaten am Arabischen Golf, Saudi-Arabien und Ägypten anbelangt, so ist sie aufgrund der Visumspolitik dieser Länder seit 2013 so gut wie unmöglich. Nicht nur für uns Syrer, sondern auch für Staatsbürger anderer arabischer Länder. Erst nach sehr komplizierten, mühseligen Verfahren, die noch dazu selten erfolgreich enden, können Ägypter, Libanesen, Iraker, Libyer in andere arabische Länder einreisen.

Ich träume von einer Welt ohne Pässe

Mit einem tiefen Seufzer tauchte ich wieder aus meiner Gedankenwelt auf. Mein Sitznachbar, der meinen Seufzer ebenfalls gehört hatte, sprach irgendwelche Wörter in Richtung meiner Ohren, wobei ich mir nicht sicher bin, ob davon auch nur eine einzige Silbe bei mir ankam. Er wollte unbedingt wissen, wo ich mit meinen Gedanken die ganze Zeit über gewesen war.

Murmelnd sagte ich zu ihm: „Ich träume von einer Welt ohne Papiere und Pässe. Ich träume davon, dass wir alle einfach wie Menschen behandelt werden – ganz egal welche Hautfarbe, Staatsangehörigkeit, Meinung, politische Anschauung, kulturelle oder ideologische Überzeugung wir haben.“

Aus dem Arabischen übersetzt von Melanie Rebasso. Der Autor (32) lebt seit dreieinhalb Jahren in Berlin. Er hat in Damaskus Journalismus studiert und ist seit zwei Jahren Mitarbeiter der Zeitschrift „KulturTür“, einer mehrsprachigen Zeitschrift des Deutschen Roten Kreuzes Berlin-Südwest.

Dieser Text ist im Rahmen des Exiljournalistenprojekts #jetztschreibenwir entstanden. Das mehrfach preisgekrönte Tagesspiegel-Projekt, das von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und der Robert Bosch Stiftung unterstützt wird, begann im Herbst 2016 mit einer ganzen Tagesspiegel-Ausgabe mit Texten von Exiljournalisten. Nach "Wir wählen die Freiheit" (September 2017) und "Heimaten" (Juni 2018) erscheint mit "Wir in Europa" (Mai 2019) die dritte Beilage, die von Exiljournalisten gestaltet wurde.  

Hareth Almukdad

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