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Ein zerrissenes Poster des syrischen Präsidenten Bachar al-Assad in der Stadt of Ras al-Ain im Norden Syriens.

© AFP/Bulent Kilic

Was bedeutet Freiheit für einen Syrer?: Wir sind Gefangene unseres Schmerzes

Im Unrechtsstaat, im Gefängnis oder im Exil: FREIHEIT hat viele Farben. Aber ihre Abwesenheit schmerzt immer.

Deutsche Freunde fragen uns manchmal, ob das Wort „Freiheit“ uns Flüchtlingen trotz sechs Jahren des Tötens und der Vertreibung noch etwas bedeutet. Eine berechtigte Frage. Denn die syrische Revolution hat sich zu einem zerstörerischen Krieg entwickelt, der die Syrer mehr Kraft kostete, als sie hatten, und ihnen mehr Leid aufbürdete, als sie ertragen konnten. Viele von ihnen mussten einen bitteren Preis für ihr Streben nach Freiheit zahlen.Dennoch sehne ich mich persönlich immer noch nach der Freiheit – und die meisten Syrerinnen und Syrer auch.

Freiheit wird von den meisten Menschen automatisch als ein Gut von hohem Wert empfunden. Was aber genau damit gemeint ist, ändert sich von Situation zu Situation. Ich habe den Wert der Freiheit auf sehr spezielle Weise gespürt, als ich 2011 den Beginn der syrischen Revolution erlebte und das syrische Volk anfangs friedlich für seine Freiheit demonstrierte. Da sah ich, wie ein Despot handelt, der sein Volk unterdrückt. Damals hallten die Straßen wider von den Sprechchören, die „Hurriya“ (Freiheit) forderten. Dafür zahlen die Syrer bis heute mit ihrer kollektiven Vernichtung.

Man muss sich erinnern: Unter der Herrschaft der Assads gab es keine Freiheiten. Die Familie Assad nahm Menschen die Rede- und Versammlungsfreiheit und verbot jede politische Betätigung, angefangen mit der Gründung von Parteien. Sie unterdrückte die Pressefreiheit, verfolgte syrische Oppositionelle oder völlig unpolitische Menschen, nur weil sie den Staat kritisiert hatten. Sie brachte sie ins Gefängnis oder zwang sie ins Exil. Die Wände hatten Ohren in Syrien, es gab weder private noch öffentliche Räume. Wir hatten das Gefühl zu ersticken.

Das selbe Wort, andre Bedeutungen

Im Verlauf der Ereignisse wurden in Syrien viele unschuldige Menschen verhaftet. Ich war einer dieser politischen Gefangenen. Im Gefängnis lernt der Mensch einen anderen Aspekt der Freiheit kennen: Sie bekommt eine emotionale Bedeutung, die den Gefühlen von Liebe und Hass gleicht. Du kannst sie nur dann spüren, wenn dir die Freiheit weggenommen wurde. In deinem Inneren entsteht das Verlangen nach dieser Freiheit – der Freiheit außerhalb dieses finsteren Ortes, ohne auferlegte Zwänge und ohne den Wärter, der dir Handschellen anlegt, dich misshandelt, wann immer er will, und der dir deine Redefreiheit oder das Essen wegnimmt. Freiheit wird hier zum Wunsch, einfach als Mensch zu leben, ohne überwacht zu werden.

Als dann täglich Menschen vertrieben oder getötet wurden, bekam der Begriff wieder eine neue Bedeutung für uns: das nackte Überleben und das Recht, vor dem Tod zu fliehen und Asyl an einem anderen Ort zu erbitten, einem Ort, an dem keine Bomben fallen. Also wanderten die Syrer aus und wurden zu Flüchtlingen, die woanders ihre Rechte und ein Leben suchten. Doch auch diese Form von Freiheit schien schwer zu verwirklichen, weil dazu die anderen unser Leid verstehen müssten. Sie müssten uns gegenüber offen sein, uns empfangen und an ihrer Gesellschaft teilhaben lassen. Wenn sich die Grenzen schließen, wird einem Flüchtling erneut die Freiheit verweigert, verstanden als bloßer Wunsch zu leben wohlgemerkt. Der englische Philosoph Bertrand Russell definierte Freiheit als „das Fehlen von Hindernissen bei der Verwirklichung der Wünsche“. Und wenn der Wunsch einfach nur darin besteht, am Leben zu bleiben?

Freiheit ist nicht an einen Ort gebunden. Wir sehen das Leid der Syrerinnen und Syrer zu Hause und werden zu Gefangenen des Schmerzes. Ich lebe in Deutschland frei und sicher, aber ich kann mich nicht über diese Freiheit freuen, wenn ich an diejenigen denke, die jeden Tag Gewalt erleben.

Das Exil selbst verursacht uns Schmerzen einer anderen Art: Es war nicht unser freier Wille, ins Exil zu gehen, und wir genießen in den Ländern unseres Asyls nicht die vollen Bürgerrechte. Deshalb ist es für einen Flüchtling schwer, frei zu leben, während er durch viele Gesetze, wie zum Beispiel die Wohnsitzauflage, jeden Tag eingeschränkt wird.

Hohes Gut

Die Freiheit wurde zum verlorenen Wert in unserem Leben. Viele der Flüchtlinge, die noch in Zeltlagern oder Aufnahmeeinrichtungen leben, vergleichen diese Orte mit „geräumigen Gefängnissen“. Wir haben die Freiheit durch die Willkür des Staates in unserem Land verloren, durch die Hölle des Krieges und durch die Migrationsgesetze in unseren Aufnahmestaaten.

Freiheitssehnsucht ist nicht die Sehnsucht nach der Vergangenheit, sondern nach einer Zukunft. Noch immer kämpfen wir für sie, noch immer halten wir an ihr fest, an diesem hohen Gut, das jedem Menschen von Geburt an zustehen sollte. Nach nichts sehnt sich der Mensch so sehr wie nach vollkommener Freiheit und nichts ist elender als ihre Abwesenheit.

Der Autor ist Menschenrechtsaktivist. 2012 wurde er vom Assad-Regime inhaftiert und musste sein Studium der Zahnmedizin abbrechen. Er war als Feldreporter, Journalist und Essayist tätig und schreibt für syrische Onlinemedien, den „Spiegel“ und die „Zeitschrift für Kulturaustausch“. Aus dem Arabischen von Andreas Schmidt.

Dieser Text ist in der Beilage „Wir wählen die Freiheit“ mit Texten von Exiljournalisten am 8. September 2017 erschienen. Die Beilage entstand im Rahmen des Projekts #jetztschreibenwir des Tagesspiegels, in Kooperation mit der Friedrich-Naumann-Stiftung und der Robert Bosch Stiftung. 

Nather Henafe Alali

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