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Im Parlament. Hareth Almukdad, Rama Aldarwish, Hend Taher und Isa Can Artar (v.l.)

© Andrea Nüsse

Wir in Europa: Beilage von Exiljournalisten: Im Cockpit des Raumschiffs Brüssel

Vier Exiljournalisten hatten Gelegenheit, sich im Machtzentrum der Europäischen Union umzusehen. Hier ihre Eindrücke aus Brüssel.

ISA CAN ARTAR

Als ich den Plenarsaal des Europäischen Parlaments betrete, frage ich mich, wie es wohl wäre, wenn die Türkei ein Mitgliedsstaat wäre? Dann könnte ich die Briefkästen der türkischen Mitglieder des Parlaments sehen und in den Fluren vielleicht die türkische Sprache hören.

Ich stelle mir vor, wie aktiv die türkische Bevölkerung jetzt im Europa-Wahlkampf wäre, wie leidenschaftlich die Menschen diskutieren würden, wie die Wahlkampagnen durch die ganze Türkei reisen würden – von den Metropolen bis in die Dörfer. Aber ich bin nun mal in einem Land geboren, das kein EU-Mitglied war – und auch bis heute nicht ist. Dabei ist die Türkei ja ein Teil Europas. Seit langem schon ist die türkische Kultur mit der europäischen vermischt.

Und ich weiß, wie wichtig die europäischen Organe für die Türkei sind. Man hört in der Türkei vom Europäischen Gerichtshof und von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Man hört viel über Menschenrechte.

Vom Europäischen Parlament erfährt man nicht so viel, weil die Türkei kein Mitgliedsstaat ist und an den Entscheidungen nicht beteiligt ist. Wenn sie es aber wäre, dann – da bin ich mir sicher – hätten die Vorkämpfer für Demokratie und Bürgerrechte viel mehr Kraft. Vielleicht wäre die Türkei sowohl wirtschaftlich als auch sozial besser aufgestellt. Als EU-Mitglied wäre es für die Menschen viel leichter, für mehr Demokratie und mehr Freiheit zu kämpfen.

Daher war es für mich ein interessantes Gefühl, das Europäische Parlament zu sehen, denn ich hatte seit meiner Kindheit immer viel darüber gehört. Die EU war ein großes Thema in der Türkei.

Und jetzt hatte ich plötzlich die Gelegenheit, die Organe der EU mit eigenen Augen zu sehen - zu einem Zeitpunkt, an dem sich die Türkei erstmal verabschiedet aus der europäischen Geschichte. Aber vielleicht nähert sie sich ja irgendwann wieder an? Das kann im Moment niemand einschätzen.

RAMA ALDARWISH

Im Europäischen Parlament wird – wie in allen Parlamenten – viel gestritten: über neue EU-Gesetze und Richtlinien, über Geld, Sicherheit, Freiheit und vor allem über den Frieden. Bei unserem Besuch in Brüssel wollte ich daher vor allem herausfinden, wie sich die Parlamentsabgeordneten eine Meinung bilden, wie sie ihre Entscheidungen vorbereiten, diskutieren und begründen.

Wie aber funktioniert das? Denn um das zu schaffen, wofür sie nach Brüssel entsandt sind, müssen die Politiker miteinander reden. Wie aber kann das gelingen, wenn sie keine gemeinsame Sprache haben? Das habe ich begriffen, als ich im Plenarsaal stand und die Kabinen der Dolmetscher sah. Hier wird jeder Redebeitrag simultan in die 24 offiziellen Amtssprachen übersetzt. Im Europäischen Parlament sorgt eine Kette von Übersetzern und Dolmetschern dafür, die Sprachbarrieren abzubauen. Denn das Können oder Nichtkönnen von Sprachen soll sich im EU-Europa nicht nachteilig auswirken. Also müssen die Dolmetscher übersetzen und somit die Kluft zwischen den Sprachen beseitigen. Zu den Debatten im Europäischen Parlament gehören natürlich auch die Emotionen der Rednerinnen und Redner. Auch sie sollen über die Kopfhörer mitgeteilt werden. Die Kabinen der Dolmetscher wirken daher auf mich, als ob sie das Cockpit des EU-Parlaments wären.

HEND TAHER

Am zweiten Tag unserer Reise zeigt uns ein Reiseführer die Kunstwerke im europäischen Viertel. Ich frage mich, warum die Kunstwerke wichtig sind? Und was ist das überhaupt für Kunst?

Wir laufen zwischen den Gebäuden der Europäischen Union herum, die so riesig sind, dass die Sonne es nicht bis zum Boden schafft. Die Straßen sind voller Autos, viele Menschen in Anzügen laufen schnell herum und man sieht kaum Kinder. Ich frage mich, ob die EU-Abgeordneten und ihre Mitarbeiter vor lauter Arbeit noch eine Verbindung zum Alltag der Bürger haben?

Vor dem Berlaymont-Gebäude sehen wir einen viereckigen Gedenkstein für Robert Schuman, einen französisch-deutschen Politiker, der als Gründungsvater der EU gilt. Der Gedenkstein ist in den vier Sprachen der Gründerländer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1958 beschriftet: Deutsch, Französisch, Holländisch und Italienisch – jede Seite hat eine Sprache. Unser Führer erzählt uns, dass es einen Streit darüber gab, welche Seite – und damit welche Sprache – zum Eingang und welche zur Straße zeigen sollte. Aber am Ende habe man sich geeinigt. Diese Episode symbolisiert für mich, wie Europa mit Konflikten umgeht. Dabei war es damals noch einfacher – man konnte alle vier Sprachen nutzen. Heute sind es 28 Länder. Welche Sprachen würde man wohl heute verwenden, um Gedenksteine zu beschriften?

Kurz darauf stehen wir vor der Figur eines großen Menschen, der ins Nichts tritt. Der Mensch hat keine Haare, man kann ihm kein Geschlecht, keine Nationalität zuordnen. Diese Figur symbolisiert für mich die Idee, dass Europa sich als eine Einheit sieht, in der alle gleichberechtigt sind. Und sie steht für die Frage: Wohin geht Europa? Diese Unsicherheit über Europas Zukunft spürte ich sehr stark. Tritt Großbritannien aus oder nicht? Wie wird die EU danach aussehen? Wie überlebt die EU die Flüchtlingskrise? Witzig ist: Beim Aufstellen der Statue hat man offenbar nicht bedacht, dass ihr Fuß vom Boden aus erreichbar ist und Passanten sich daran hängen. Sie können so symbolisch die Zukunft Europas aus dem Gleichgewicht bringen.

Dann sehen wir doch noch Kinder, wenn auch nur aus Stein. Vor den riesigen Glasfassaden mit ihren hunderten Fenstern stehen Figuren von kleinen Kindern, die entspannt und fröhlich spielen. Eine Erinnerung daran, dass es hier tatsächlich um das Wohl der Menschen geht. Sie kommen mir vor wie die einzelnen Passanten an diesem Ort: klein und unsichtbar. Um eine Fraktion im EU-Parlament zu bilden, müssen sich mindestens 25 Abgeordnete zusammentun.

Berührend ist ein Denkmal zur Erinnerung an die Opfer des Terroranschlags vom 22. März 2016. Das Denkmal zeigt Narben, die immer weniger werden, bis sie gar nicht mehr existieren. Darauf stehen frische Blumen. Ich frage mich, wer hier im März schon für frische Blumen sorgt? Auf dem Denkmal steht eine Inschrift in drei Sprachen: Flämisch, Französisch und Deutsch, die drei Amtssprachen von Belgien. Kurz danach bekommen wir mit, dass eine Straße direkt am Robert-Schuman-Platz wegen eines Bombenalarms gesperrt wurde.

Nach der Führung ist mir klar, dass das Europaviertel viele Kunstwerke hat: Statuen, Figuren und Denkmäler, welche die Gefühle, Gedanken und Prinzipien hinter den Glasfassaden im Stillen aussprechen. Ich frage mich, ob ich die Einzige bin, die sie ohne eine Führung übersehen hätte? Und ob die darin ausgedrückten Prinzipien und Werte eigentlich allen Europäern klar sind – oder ob viele so eine Führung bräuchten?

HARETH ALMUKDAD

In Brüssel kann man mit verschiedenen Kulturen leben, in verschiedenen Sprachen sprechen und man fühlt sich in dieser Stadt nicht fremd. Zu jeder Zeit kann man Menschen aus allen Ländern der Europäischen Union treffen, die dort an gemeinsamen Zielen arbeiten. So begegnen wir bei unserem Besuch im Europäischen Parlament auch anderen Gruppen aus allen Ländern der Europäischen Union, die einen Einblick in das Parlament und seine Arbeitsweise nehmen.

Vor unserer Reise nach Brüssel konnte ich mir nicht vorstellen, wie groß und komplex der demokratische Prozess der Europäischen Union ist; und sogar jetzt, als ich das Europäische Parlament besuche und mit eigenen Augen beobachte, wie Entscheidungen getroffen werden und wieviel Zeit aufgewendet wird. Insbesondere die Mühe, mit der alle Texte in 24 Sprachen übersetzt werden, so dass alle Mitglieder ihre Vorschläge ohne Probleme einreichen können, ist für mich eine neue Erfahrung, über die ich mich sehr gefreut habe. Und trotzdem bin ich jedes Mal sehr erleichtert, wenn ich die deutsche Sprache höre. Das ist sehr überraschend für mich und ein neues Gefühl – so als wäre es meine zweite Muttersprache.

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