zum Hauptinhalt
Hier dreht sich alles um Rad: Im Standert in der Invalidenstraße 157 in Mitte huldigt man dem Zweirad-affinen Lebensstil.

© Thilo Rückeis

Fahrradkultur in Berlin: Ritzel und Milchkaffee

In Berlin gibt es drei Fahrradcafés, die mehr bieten als Ersatzteile. Sie sind Werkstatt, Zweiradausstatter, Verkaufsfläche, Museum für schöne, alte Räder und Treff für Velo-Enthusiasten.

In der Kreuzberger Oberbaumstraße 5 prangen Rennrad-Graffitis an der Fassade. Und wer die Räume betritt, die dahinter liegen, der könnte den Eindruck haben, in ein Fahrradmuseum geraten zu sein. Überall klassische Stahlrenner, bunte Rahmen, filigrane Stahlrohre, Farbkombinationen und Schriftzüge, wie sie in den Sechzigern, Siebzigern oder Achtzigern modern waren, Schriftzüge von edlen Marken wie Eddy Merckx oder Colnago. Dazu Bilder, alte Schilder und Plakate, unzählige kleine Radsport-Details. Optisches Highlight ist ein Zweisitzer über dem Tresen – ein Cinelli Renn-Tandem, das die Italiener einst in die DDR geliefert hatten, an einen Radsport-Club in Cottbus.

Kollegen aus der Kurier-Szene unter sich

Ein Teil der Räder ist zu verkaufen, ein anderer nicht. Denn irgendwie ist das Keirin wirklich ein Museum. Aber auch noch einiges mehr. „Cycle Culture Café“ steht auf der Website. Und „since 2004“. Denn Betreiber Mortimer und sein damaliger Kompagnon waren die ersten in Berlin, die sich eine gute Kaffeemaschine neben Fahrradrahmen, Schläuche und Trikots stellten und so die Kombination Fahrradladen, Reparaturbetrieb und Café-Bar etablierten.

Eins ist dem Mann hinter dem Tresen wichtig: „Wir machen ganz normale Reparaturen und sind offen für jedes Rad und jeden Fahrer.“ Den Fixie- und Singlespeed-Boom in der Stadt dürfte das Keirin nicht unwesentlich mit angeheizt haben – aber vor allem deshalb, weil viele der Kurier-Kunden damals schon solche Räder fuhren. Auch Mortimer wirkt keinesfalls wie ein Hipster. Der 41-Jährige ist geborener West-Berliner und hat praktisch sein ganzes Leben auf zwei Rädern verbracht. Erst als BMXer und ab den Neunzigern dann als Fahrradkurier, in Berlin, aber auch in New York oder Tokio.

Fahrradkultur aus der Fixie-Szene: Das Keirin in der Oberbaumstraße 5 in Kreuzberg gibt es schon seit über elf Jahren. Anfangs wollte der Betreiber ein Café mit Laden eröffnen. Doch es kam genau umgekehrt.
Fahrradkultur aus der Fixie-Szene: Das Keirin in der Oberbaumstraße 5 in Kreuzberg gibt es schon seit über elf Jahren. Anfangs wollte der Betreiber ein Café mit Laden eröffnen. Doch es kam genau umgekehrt.

© Thilo Rückeis

A propos: Keirin – das ist ein spektakulärer Bahnrad-Sprint, der ursprünglich aus Japan stammt. Die Idee für den Laden kommt allerdings aus Kanada: „Bei der Kurier-WM 1995 in Toronto haben wir das erste Mal diese Art Coffee Shop gesehen“, erinnert er sich. „Und dann haben wir gedacht, wir legen uns ein paar Schläuche und Mäntel ins Regal und bieten außerdem noch Kaffee und Kuchen an.“ Die ersten Kunden waren Kollegen aus der Kurier-Szene und die baten die Betreiber, immer mehr weitere Ersatzteile ins Sortiment aufzunehmen. „Eigentlich wollten wir ein Café mit Laden“, blickt der Betreiber zurück. „Aber dann ist es umgekehrt gekommen.“

Heute baut man im Keirin komplette Räder nach Kundenwünschen, mit oder ohne Schaltung, komplett neu oder auch auf Basis von alten Stahlrahmen. Man zeigt die Tour de France und andere Radsport-Events und ab und zu gibt es auch eine besonderer Ausstellung, so wie letztens mit alten Sechs-Tage-Rennen-Fotos. Außerdem hat man Lastenräder des dänischen Herstellers Omnium im Sortiment. Seine Wurzeln in der Kurierszene kann der Laden dabei nicht verleugnen – alle paar Minuten kommt einer von Mortimers ehemaligen Kollegen vorbei. Um ein Teil zu kaufen, auf einen Kaffee, eine Zigarette vor der Tür oder um einfach ein bisschen zu quatschen.

Ein Fahrrad ist ein ästhetisches Produkt

Über elf Jahre existiert das Keirin nun schon. In dieser Zeit hat sich um das Fahrrad in Berlin ein riesiger Boom entwickelt. Aus einem Transportmittel ist Lifestyle geworden – und so stehen in anderen Läden Jüngere hinter dem Tresen, die völlig anders in das Thema hineingewachsen sind als der Kreuzberger.

Der Name Standert ist eine Hommage an die berlinerische Aussprache des Wortes Standard. Seit fast drei Jahren gibt es das Fahrradcafé nun schon. Seine erste Renovierung hat es bereits hinter sich.
Der Name Standert ist eine Hommage an die berlinerische Aussprache des Wortes Standard. Seit fast drei Jahren gibt es das Fahrradcafé nun schon. Seine erste Renovierung hat es bereits hinter sich.

© Thilo Rückeis

Zum Beispiel Max von Senger und Benedict Herzberg. Die beiden sind 31 und 26 Jahre alt, von Senger ist Betreiber des Standert in der Invalidenstraße 157, Herzberg seine rechte Hand. Auch hier gibt es eine gute Kaffeemaschine, einen Tresen, Holztische und viele Fahrräder – und auch hier huldigt man einem Zweirad-affinen Lebensstil. „Mit dem Standert habe ich mir einen Traum erfüllt“, sagt Senger.

„Standert“, das ist eine Hommage an die berlinerische Aussprache von "Standard“ - seit fast drei Jahren gibt es den Laden, vorher hat sein Besitzer Industrie-Design und Marketing-Kommunikation studiert. Fahrrad-Fan war er schon immer – und in London hatte er Geschäfte gesehen, die Räder verkauften und gleichzeitig zum Verweilen einluden: etwas trinken, reden, vielleicht gemeinsam mit anderen Fans die Übertragung eines Radrennens ansehen. „Ein Fahrrad ist ein ästhetisches Produkt, da sollte auch das Einkaufserlebnis so ein“, erklärt Senger.

"Wir haben die richtige Zeit erwischt"

Denn das Standert ist zwar ein schicker Laden und eine eigene Rennrad-Gruppe mit regelmäßigen Ausfahrten haben von Senger und Herzberg auch etabliert. Aber vor allem liegt den beiden die eigene Fahrradmarke am Herzen: Ebenfalls unter dem Namen Standert lassen sie in Italien Stahlrahmen bauen und komplettieren sie in Berlin zu edel reduzierten Rädern. Die neue Kollektion umfasst Singlespeeds, aber auch Renn- oder Stadträder. Im Herbst soll noch ein Crosser dazu kommen.

Im Fahrradcafé Keirin gibt es in jeder Ecke etwas zu entdecken. Klassische Stahlrenner, bunte Rahmen, filigrane Rohrkonstruktionen, Schriftzüge und Bilder aus den Sechzigern und Siebzigern.
Im Fahrradcafé Keirin gibt es in jeder Ecke etwas zu entdecken. Klassische Stahlrenner, bunte Rahmen, filigrane Rohrkonstruktionen, Schriftzüge und Bilder aus den Sechzigern und Siebzigern.

© Rhilo Rückeis

Auch das Ladenlokal hat man zum Frühjahr noch einmal aufgehübscht. Das Sortiment präsentiert Standert jetzt an unverputzten, rohen Backsteinwänden und zu aparter warmer, gedämpfter Beleuchtung. „Ich bin dankbar, dass ich jeden Tag so arbeiten kann“, sagt Max von Senger. „Wir haben die richtige Zeit erwischt“, ergänzt Herzberg.

Sicher nichts zum Reichwerden

Derweil feilt man im Standert weiter an der Vermarktung: Demnächst kommt ein Dienstrad-Leasing ins Angebot, ein 900-Euro-Rad könnte ein Chef dann für 15 Euro monatlich für Mitarbeiter leasen. Max von Senger erklärt den Vorteil: „Das kann man von der Steuer absetzen.“

Im Keirin steht Mortimer derweil am Tresen, verkauft Kaffee und pflegt zwischendurch seinen Blog. Nebenbei erzählt er Geschichten aus den Neunzigern, als Kuriertouren nach Lichtenberg für ein West-Kind noch ein richtiges Erlebnis waren, wie man sich auf zwei Rädern die Stadt erfuhr und dass Autofahrer in New York eigentlich netter mit Radlern umspringen als in Berlin. „Zum Reichwerden ist so ein Fahrradladen sicher nichts“, meint er schulterzuckend. Aber dafür ist er von einer Menge schöner alter Räder umgeben.

Kai Kolwitz

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false