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S-Bahn-Chaos: Eine Sternfahrt nach Berlin

Einen Notfahrplan hatten sie, mit 434 Viertelzügen. Das war, bevor der Winter kam. Nun fahren noch 200 – und seit dem Wochenende auf vier Linien gar keine mehr. Wer vom Stadtrand ins Zentrum will, hat ein Abenteuer vor sich. Eine Sternfahrt nach Berlin.

Montagmorgen, ziemlich früh, es taut ein wenig, es ist nicht zu kalt, es könnte ein schöner Tag werden, sonnig vielleicht, die Luft ist klar. Unter den Schuhsohlen auf den Bahnsteigen knistern Splitt und Salz, es raschelt ungeduldig, es knirscht im Getriebe. Es könnte auch ein chaotischer Tag werden. Auf vier Linien hat die S-Bahn ihren Betrieb eingestellt, komplett. Stillgelegt sind Streckenabschnitte vor Hennigsdorf, vor Spandau, vor Wartenberg und Strausberg-Nord. Die Fahrgäste fluchen, fast resigniert, was bleibt ihnen auch sonst.

„Wir sind ja Kummer gewöhnt“, sagen sie.

Die S-Bahn sagt, die Sperrung sei geplant „bis auf Weiteres“.

Ein Eisenbahner meint: „Das macht keinen Spaß mehr.“

Wenn man weiß, worauf man wartet, das sagen Psychologen, dann werden Wartezeiten toleriert, auch lange. Im Vergnügungspark etwa, in der Schlange zum Karussell. Draußen, abgeschnitten vom S-Bahn-Netz, weiß am Montag niemand mehr so recht, auf was er eigentlich wartet, warten soll, wenn es denn nicht die Bahn ist.

SPANDAU, S75

Früh um sieben Uhr ist auf dem Bahnhof Spandau die Rolltreppe zu den S-Bahnsteigen mit einem Gitter versperrt. Über die Treppe gegenüber ist ein rot-weißes Plastikband gespannt. Daneben hängen Schilder mit der Überschrift „Kein S-Bahn-Verkehr“. Darunter steht: „Ab 2.1.2011 wird aufgrund störungsbedingter Fahrplanänderungen dieser Streckenabschnitt nicht mehr mit S-Bahnzügen bedient.“ An diesem frühen Morgen klingt es fast endgültig.

Die meisten Fahrgäste scheinen bereits Bescheid zu wissen, hasten weiter zum übernächsten Bahnsteig, wo die Regionalzüge in Richtung Innenstadt halten.

Immer mehr Kinder mit Schulranzen drängen in den Bahnhof. Viele sind vom Ausfall der S-Bahn überrascht und wissen zunächst nicht, wie es weitergeht. Vom Info-Tresen der Deutschen Bahn werden sie weiter zum Schalter der S-Bahn ins Kundenzentrum geschickt. Zwei Damen erklären: „Da müsst ihr mit dem Bus 236 bis nach Alt-Pichelsdorf, dann auf den M49 umsteigen bis Flatowallee, und dann müsst ihr das letzte Stück zur Schule laufen.“ Der Schulweg, ein Abenteuer.

Auf den Spandauer Bahnsteigen drängen sich derweil die Menschen. Der um 7 Uhr 19 mit nur drei Minuten Verspätung aus Nauen und Falkensee einrollende Regionalexpress Richtung Flughafen-Schönefeld ist bereits sehr voll. Drei weitere Regionalzüge in Richtung Zentrum soll es in dieser Stunde noch geben. Wer kann, der quetscht sich hinein.

WARTENBERG, S75

Um 8 Uhr 35 ist der Bus zum S-Bahnhof Hohenschönhausen gerade abgefahren – und damit die Chance passé, möglichst zügig den Bahnhof in Wartenberg verlassen zu können. „Laufen Sie doch zur Zingster Straße“, empfiehlt eine Dame, die in einem Kabuff neben dem Eingang zur Unterführung sitzt. Eigentlich verkauft sie dort Tickets, heute aber ist sie zwangsläufig auch Auskunft – und lässt sich beschimpfen. An der Zingster Straße werde die als Ausweichempfehlung angegebene Tram M4 eingesetzt, „da ist es auch leerer“, sagt die Dame.

Der Weg vom S-Bahnhof Wartenberg zum Tram-Halt Zingster Straße/Ribnitzer Straße ist allerdings anspruchsvoll. Trotz Räumpflicht: Da und dort mal Sand, sonst Eis, großflächig, mal rutschig-glatt, mal unangenehm hügelig. Ein Spurt zur Tram, die zeitgleich eintrifft. Vor Eile nicht aufs Schild geschaut und in die falsche Tram gesetzt: in die M5 Richtung Alex und Hackescher Markt, nebst längerer Tour durch Lichtenberg. Eine Dreiviertelstunde später Ankunft am Alexanderplatz. Auf den Gleisen neben einem vollen Bahnsteig gleitet die S-Bahn Richtung Westkreuz zum Halt. Sie ist voll, wird noch voller, aber sie fährt, fährt so schön und lautlos, dass unvorstellbar ist, wie an diesen Zügen überhaupt irgendwas kaputtgehen kann.

HEILIGENSEE, S25

Am S-Bahnhof Schulzendorf, 9 Uhr 30. An der Bushaltestelle steht ein Schild, das auf den Ersatzverkehr hinweist, ein Fahrplan ist nicht vorhanden. Der findet sich erst hinter dem Gitter, das den Bahnhofseingang versperrt, und ist nur über einen gefährlich vereisten, kaum begehbaren Weg erreichbar. Der nächste Bus kommt um 9 Uhr 42, acht Minuten nach der regulären Abfahrtszeit der S-Bahn. Theoretisch – denn praktisch steht er schon da, sieben Minuten zu früh. Oder dreizehn zu spät?

Sitzplätze sind noch zu haben, nur ein halbes Dutzend Fahrgäste steigt ein. Der Fahrer gibt entschlossen Gas, fährt zügig an den Haltestellen des parallel verkehrenden 124ers vorbei und kommt wenige Minuten später am U-Bahnhof Tegel an; mit der S-Bahn und anschließendem Fußmarsch vom S-Bahnhof Tegel wäre das unmöglich gewesen.

Auch die U-Bahn ist nur locker gefüllt wie immer um diese Zeit, ein Unterschied nicht erkennbar. Unsicherheit am Bahnhof Friedrichstraße: Wie jetzt weiter? Wird unten eine S-Bahn zum Anhalter Bahnhof fahren? Dort ist es gespenstisch ruhig, trotz vieler wartender Menschen. Fünf Minuten später rollt die Bahn Richtung Wannsee ein. Bilanz des ersten Tages: die Fahrt hat eine Viertelstunde länger gedauert als zu besten S-Bahn-Zeiten. Die liegen aber schon länger zurück.

HENNIGSDORF, S25

Vor dem S-Bahnhof Hennigsdorf könnte am Montagmorgen Urlaubsstimmung aufkommen. Moderne Reisebusse stehen dort, werben in großen Lettern für Fahrten an die Ostsee, an das Stettiner Haff oder ins Weimarer Land. Doch die Stimmung jener Menschen, die in der Kälte warten, kann der Komfort in den Fahrzeugen nicht verbessern. Sie wollen schließlich nur auf dem kürzesten Weg raus aus der nordwestlichen Vorstadt und rein nach Berlin. Die komfortablen Ersatzbusse, geordert aus ganz Deutschland, fahren allerdings nur bis zum U-Bahnhof Alt-Tegel oder bis zum S-Bahnhof in Wilhelmsruh, wo die Fahrgäste wieder umsteigen müssen. Fast 40 Minuten lang dauert die Fahrt mit dem Bus, doppelt so lang wie mit der S-Bahn. Und Platz ist knapp.

„Wo soll ich jetzt mit dem Kinderwagen hin?“, fragt eine Mutter den Fahrer des großen „Ostseereise“-Busses aus Wismar. Der schüttelt den Kopf und kann nicht helfen. „Bei mir passt er nicht rein.“ Die Frau schaut verzweifelt auf die Uhr und muss doch auf den nächsten Bus mit einer breiten Tür warten. Weitere 20 Minuten vergehen. Radfahrer haben erst gar keine Chance.

Den größten Frust der Fahrgäste versuchen zwei ältere Angestellte der Bahn AG abzufangen. Freundlich weisen sie auf die abwechselnd nach Tegel und Wilhelmsruh abfahrenden Ersatzbusse hin und können doch die am häufigsten gestellte Frage nicht beantworten: „Wie lange soll das Chaos noch dauern?“ Die beiden Bahnmitarbeiter zucken mit den Schultern.

Die vom S-Bahnsteig ausgesperrten Fahrgäste machen sich ihre eigenen Gedanken und „sehen für die Zukunft schwarz“, wie es allenthalben heißt. Ein Busfahrer aus dem Ücker-Randow-Kreis in Vorpommern erzählt, dass die S-Bahn für die Miete des Busses pro Tag 600 Euro zahlen müsse. Dazu kommen Verluste, weil niemand mehr Tickets kauft für Bahnen, die doch nicht fahren. Sämtliche Busse im Schienenersatzverkehr sind notgedrungen kostenlos. Es gibt schließlich gar keine Entwertungsmöglichkeiten für die Fahrkarten, ganz abgesehen davon, dass es natürlich auch ganz unmöglich ist, bei einem der Busfahrer Karten zu erwerben. Wenigstens das Warten ist umsonst.

Es warteten auf Bahnen und Busse: Rainer W. During, Bernd Matthies, Johannes Schneider und Claus-Dieter Steyer

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