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© dpa

S-Bahn: Winter und S-Bahn-Chaos - eine explosive Mischung

UPDATE Noch nehmen die meisten Fahrgäste das S-Bahnchaos still leidend hin. Doch Zeitdruck und Ohnmachtsgefühle machen sie immer wütender. Auch am heutigen Montag gab es am Morgen wieder Verspätungen und Zugausfälle.

Auch am Montag hat der Bahnverkehr mit Ausfällen und Verspätungen begonnen. Die Züge lagen bis zu 40 Minuten hinter dem Fahrplan zurück. Ursache seien Weichenstörungen gewesen, sagte ein Bahnsprecher. Am S-Bahnhof Charlottenburg betraf das die Linien S 3, 5 und 75. Am Ostbahnhof war der Regional- und Fernverkehr eingeschränkt. Die Probleme seien inzwischen behoben worden und der Verkehr rolle wieder. Ob die Weichenstörungen auf das Wetter oder auf einen technischen Defekt zurückzuführen waren, konnte der Sprecher zunächst nicht sagen.

Auch der sonstige S-Bahnverkehr lief am Morgen nicht reibungslos. Viele Züge hatten Verspätung, immer wieder wurde per Durchsage um „Verständnis für witterungsbedingte Verzögerungen“ gebeten. Teilweise waren die Züge so voll, dass nicht alle Wartenden einsteigen konnten und auf den nächsten Zug warten mussten.

Die Wut hat viele Gesichter

Bei den Berlinern, die auf die S-Bahn angewiesen sind, nimmt der Ärger zu. Die Wut hat viele Gesichter. Sie spiegelt sich in den Augen des Büroangestellten, der zum dritten Mal in dieser Woche zu spät kommt. Sie ist zu lesen in der Miene der jungen Mutter, die mit ihrem Kinderwagen nicht mehr in den Waggon passt. „Wenn ich darüber nachdenke, wie viel Zeit ich im letzten Jahr beim Warten auf die S-Bahn vergeudet habe, könnte ich ganz laut und ganz lange schreien”, sagt ein Fahrgast, der am Nordbahnhof wartet.

Doch der 44-Jährige schreit nicht. Wie die meisten anderen Fahrgäste wird er nicht aggressiv, wenn er zu Langmut und Passivität verdonnert in beißender Kälte auf den Bahnsteigen steht. Weder demolieren sie den Fahrkartenautomaten oder den Mülleimer noch tritt jemand gegen die endlich eingefahrene S-Bahn. Auch verbal ausfallend gegen Kontrolleure, das Bahnsteigpersonal oder den Zugführer wird man in den Berliner S-Bahnhöfen und -zügen nur äußerst selten.

„Und das, obwohl zahllose Fahrgäste täglich emotionalen Nadelstichen, Zeitdruck, Verunsicherungen infolge von Kontrollverlust und damit enormem Stress ausgesetzt sind“, sagt Peter Walschburger von der Freien Universität. Für den Professor für Biopsychologie und Stressforscher hat die Situation viel Kafkaeskes: „Zu den Verunsicherungen gesellen sich Ohnmachtsgefühle, weil man kaum eine Möglichkeit hat, den Notstand persönlich zu beeinflussen.“ So schlucken viele Fahrgäste ihren Ärger gegen den Verursacher, die als anonym empfundene Institution der S-Bahn GmbH, hinunter, weil sie nicht wissen, wohin mit ihrem Ärger. Sie ahnen nur: Den einzelnen Zugführer oder Kontrolleur, dem sie gerade wütend ins Gesicht blicken, trifft kaum eine persönliche Schuld. „Und da sehen sie dann oft eine Verunsicherung und Hilflosigkeit, die der ihren gleicht – und vielleicht sogar noch ein aufrichtiges, entschuldigendes Lächeln dazu“, sagt Walschburger. Der 63-Jährige fürchtet, dass der unterdrückte Ärger irgendwann in offene Aggression umschlagen könnte, da viele Berliner aufgrund der vielfältigen Belastungen durch das Großstadtleben sowieso am Rande ihrer Entspannungsfähigkeit lebten. „Da ist jede Menge politischer Sprengstoff drin, und Politiker und Manager täten gut daran, schnell zu reagieren“, sagt Walschburger.

Das Desaster rund um den täglichen Beförderungsfrust nimmt nicht nur die Fahrgäste, sondern auch zahlreiche S-Bahnmitarbeiter mit. „Machen wir uns nichts vor: Der Betrieb ist ausgebombt und der Krieg ist verloren. Doch nicht das Fußvolk ist für die Niederlage verantwortlich“, sagt ein Kundenbetreuer der S-Bahn, der anonym bleiben will. Er und seine Mitarbeiter versuchen, die vielen Beschwerden und die Anfragen nach Abo-Kündigungen und Fahrplanänderungen am Telefon und per E-Mail persönlich zu beantworten und sie nicht bloß mit einem Formschreiben abzuspeisen. „Wir sind mit viel Enthusiasmus dabei. Know-how heißt die Lösung für die S-Bahn: Das hatten wir mal, und wenn man uns nur lässt, können wir den Karren aus dem Dreck ziehen“, sagt der Kundenbetreuer. Wie auch auf den Bahnsteigen hält sich das Aggressionspotenzial bei den Telefonanrufen in Grenzen. „Es kommt nur selten vor, dass ein Anrufer gegen uns beleidigend wird. Den meisten ist wohl bewusst, dass wir nichts für die jetzige Misere können.“

Offenbar nutzen die Berliner andere Möglichkeiten, ihrem Ärger Luft zu machen. So liegt den Mitarbeitern des Bürgertelefons 115 bis heute nicht ein einziger Beschwerdeanruf zur S-Bahn vor, wie ein leitender Mitarbeiter versichert. Und auch bei der Staatsanwaltschaft Berlin sind erst wenige private Anzeigen gegen die S-Bahn eingegangen. Vielleicht, weil es kaum eine hinreichende Rechtsgrundlage gibt, sagt Jens Wieseke vom Fahrgastverband IGEB: „Da es ein Verbundticket ist und die anderen VBB-Unternehmen ihre Aufgaben erfüllen, dürfte eine Klage kaum Aussicht auf Erfolg haben. Zumal es fast immer Möglichkeiten gibt, ersatzweise auf Bus, Regional- oder U-Bahn umzusteigen.“ Neben den Kundenbetreuern bekommen die Mitarbeiter in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung wohl am meisten Wind ab. „Uns erreichen recht viele Beschwerden, die S-Bahnprobleme sind zurzeit das Hauptthema der Bürger“, sagt Pressesprecherin Manuela Damianakis. Doch viel mehr, als darauf zu verweisen, dass man nach Lösungen suche, sei eben zurzeit nicht möglich.

Da wird von manch anderer Stelle unter der Hand ein pragmatischerer Ratschlag gegeben: Er lautet, das Ticket das nächste Mal nicht direkt an den Automaten und Schaltern der S-Bahn oder der Deutschen Bahn, sondern bei den restlichen 41 Unternehmen des Verkehrsverbunds Berlin-Brandenburg zu kaufen. So landen die zehn Prozent Verkaufsprovision auf keinen Fall im S-Bahnsäckel. „Und das wird die S-Bahn ab einer gewissen Stückzahl schmerzhaft zu spüren bekommen“, sagt Fahrgast Matthias Neuhaupt. Der 53-jährige Neuköllner hat sein Ticket nach einem Anruf beim Fahrgastverband gerade an einem BVG-Automaten im U-Bahnhof Karl-Marx-Straße gekauft, ein kleines schadenfrohes Lächeln umspielt seine Lippen – vielleicht steht genau das ja für Wutbewältigung auf Berliner Art.   

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