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Wartungschaos: S-Bahn lässt Berliner zusammenrücken

Aus Chaostagen werden Chaoswochen und der Notstand wird zur Normalität. Am Wochenende trifft es besonders Fahrgäste auf dem Weg zu Konzerten, wenn nur alle 20 Minuten ein Zug kommt.

Aus Chaostagen werden Chaoswochen, und der Notstand wird zur Normalität. Während die Pendler werktags unter den Ausfällen bei der S-Bahn leiden, trifft es am Wochenende vor allem die Besucher von Großveranstaltungen. So war vor dem Konzert der Toten Hosen am Freitagabend in der Parkbühne Wuhlheide die qualvolle Anreise mit der S 3 – halbierter Takt, verkürzte Züge – das Gesprächsthema Nummer eins; selbst Campino witzelte darüber. Am Samstag wiederholte sich das Problem am anderen Ende der Stadt: Mehr als 20 000 Menschen machten sich auf den Weg zum Spektakel „Energy in the Park“. Am Strandbad Wannsee, das fast nur mit der S-Bahn erreichbar ist. So war die S 1 wohl die heikelste Linie im Netz, zumal an ihrer Strecke auch andere Orte liegen, die am Wochenende beliebt sind. Nachfolgend das Protokoll einer Fahrt zum Wannsee – und ein Blick auf den Stand der Dinge.

12.36 Uhr, Friedrichstraße. Nach der S 25 kommt eine Viertelstunde nichts, dann die S1 mit sechs statt der sonst üblichen acht Wagen. Überhitzt, aber nicht überfüllt. Und pünktlich, sofern man den Notfahrplan mit dem 20-Minuten-Takt (regulär fährt alle 10 Minuten ein Zug) zugrunde legt, der im Internet unter www.s-bahn-berlin.de zu finden ist.

12.40 Uhr, Potsdamer Platz. Touristen stürmen den Zug. Die Anzeige auf dem Bahnsteig ist kaputt, aber die elektronischen Werbetafeln funktionieren. Aktuell im Angebot bei der Deutschen Bahn: das „Dauer Spezial Familie“ ab 49 Euro. Grünen-Verkehrsfrau Claudia Hämmerling sagte am Morgen, solange sich an der börsenorientierten Konzernpolitik nichts ändere, werde die S-Bahn weiter „ausgequetscht“. Auf dem Nachbargleis steht ein leerer Zug. Rund 200 Einheiten befinden sich nach Auskunft eines Bahnsprechers gleichzeitig in der Werkstatt – ein gutes Viertel des Fuhrparks.

12.47 Uhr, Yorckstraße. Jetzt wird gekuschelt. Im Laufe der kommenden Woche will die Bahn einen stabilen Notfahrplan entwickeln. Am Montag soll mit der BVG beraten werden, ob und wie diese einen Teil der Ausfälle kompensieren kann.

12.51 Uhr, Schöneberg. Ein Raunen geht durch den Wagen angesichts der Menschentraube auf dem Bahnsteig. „Watt’n ditte?“, entfährt es einem, der ebenfalls zum Wannsee will. „Vielleicht fallen ein paar durch die Ritze“, erwidert sein Kumpel. Aber dann passen doch alle rein.

12.53 Uhr, Friedenau. Ein im Wagen befindlicher Radler zieht ob seiner Anwesenheit den Unmut der Mitreisenden auf sich. Allerdings kann er jetzt auch nicht mehr aussteigen, höchstens ohne sein Rad. Der neue S-Bahn-Chef wird auch die Frage beantworten müssen, ob Fahrradkartenbesitzer entschädigt werden. Zusteigewillige ohne Gepäck werden mit den Worten „Hier ist ja wohl schlecht!“ auf andere Türen verwiesen. Ein Vater mit Kinderwagen muss draußen bleiben.

12.55 Uhr, Feuerbachstraße. Die Türen schließen erst beim zweiten Anlauf. Vier Minuten Verspätung. Kurzes Telefonat mit CDU-Fraktionsgeschäftsführer Uwe Goetze zum Thema „gefährlicher Eingriff in den Bahnverkehr“. Bis zu zehn Jahre Haft sieht das Strafgesetzbuch dafür vor. Goetze will nicht allzu konkret werden, sagt aber über die unterlassenen Radkontrollen: „Der Vorstand wusste, dass Gefahr im Verzug ist.“ Am Montag wolle er sich erkundigen, ob die Staatsanwaltschaft in der Sache tätig ist.

12.57 Uhr, Rathaus Steglitz. Einkäufer sowie mit der U 9 hierher gefahrene Menschen steigen zu. Der Radler verhält sich möglichst unauffällig, sein Hemd klebt an der Trennscheibe. Der Druck im Wagen steigt.

13 Uhr, Botanischer Garten. Das Handy eines Jugendlichen spielt „Beat it!“ von Michael Jackson. Mitreisende schütteln ihre T-Shirts, sofern sie den Platz dazu haben.

13.03 Uhr, Lichterfelde West. Ein etwa 20-köpfiger Gefangenenchor singt zum Handy: „You wanna stay alive, better do what you can. So beat it, just beat it.“ Die Stimmung ist ausgelassen.

13.06 Uhr, Sundgauer Straße. Dem Radler gelingt es auszusteigen. Das bedeutet: Platz für drei neue Passagiere. Sechs Minuten Verspätung. Anruf im S-Bahn-Servicecenter unter 2974 3333: Ob das Büro in diesen Tagen länger als sonst besetzt sei? „Nein. Samstag und Sonntag 7 bis 21 Uhr, werktags 6 bis 22 Uhr. Immerhin kommt man bei der Hotline durch.

13.10 Uhr, Zehlendorf. Der Plopp einer Bierflasche zieht großes Hallo nach sich. Neuankömmlinge werden jetzt freundlicher begrüßt, ungefähr nach dem Motto: „Einer geht noch rein.“ Durch das Gedränge an jedem Bahnhof ist der Zug allerdings acht Minuten verspätet.

13.17 Uhr, Schlachtensee. Eine Frau mit Isomatte und Handtuch steigt aus und schafft Platz für zwei neue Fahrgäste. Die Liegewiese am See ist fast so voll wie der S-Bahn-Zug. Zehn Minuten Verspätung.

13.20 Uhr, Nikolassee. Die Konzertbesucher quellen aus den Waggons wie Sonnencreme aus einer gequetschten Tube. Vielfaches Stöhnen liegt in der Luft. Wasserflaschen werden herumgereicht. Jetzt bloß nicht an den Rückweg denken, wenn das Konzert gegen 23 Uhr endet und alle auf einmal nach Hause wollen. Auf dem Weg zum Strandbad erzählen andere Konzertbesucher, dass der Regionalexpress nicht allzu voll gewesen sei.

13.23 Uhr, Wannsee. Frage an einen S-Bahner: Wie ist die Stimmung in diesen Tagen? Der winkt ab: „Wenn’s nicht so traurig wäre …“

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