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2. Platz, Erwachsene: Kohl, Zimt, Schokolade - von Klaus Pilger

Wie schön sie ist, die süße Kira, wie anmutig, wie verführerisch. Sie ist die Frau seiner Träume. Aber wieso muss sie nach Gemüse riechen?

Der Zungenkuss schmeckte nach Kohl. Nach altem Kohl. Oder schmeckte ihre Zunge nach Kohl? Schmeckte sie nach Kohl?

Entsetzlich, wenn einen beim ersten Zungenkuss ein Würgereiz packt, dachte er noch, ehe er eilig und doch behutsam sein bewegliches Muskelorgan aus ihrer Höhle zog. Und hustete, hustete, damit sie seinen Ekel nicht bemerkte. Kira begann ihm besorgt auf den Rücken zu schlagen. „Alles in Ordnung?“ „Ja, ich hab’ mich wohl an meiner eigenen Spucke verschluckt.“

David glaubte sich nun langsam beruhigen zu können und er schaute vorsichtshalber resthüstelnd in ihr Gesicht, das seines anteilnehmend anlächelte.

Was für ein wunderschönes Gesicht!, dachte er. Was für herrliche schwarze Augen sie hat, wie geschmeidig ihr dunkelbraunes Haar, wie liebreizend die Grübchen in beiden Backen, wie filigran die Hände, wie rund ihr Busen! Nur: David konnte die schöne junge Kira nicht riechen. Beziehungsweise: Er roch viel zu viel von ihr: jenen milchig-säuerlich anmutenden Basisgeruch, den selbst ihr zwar dezent aufgetragenes, aber trotzdem widerliches Moschusparfum kaum überdeckte, nein, eher noch verstärkte.

Wie kann eine so schöne Frau nur so entsetzlich stinken? Was geht da in diesem exquisiten Körper vor, welche fremdartigen barbarischen Bakterienhorden bewohnen da zu Milliarden diese zarte, eigentlich doch so süße Haut? Und jetzt konnte er auch noch ihren Geschmack nicht ertragen, diesen Kohlgeschmack, der einfach nicht aus seinem Mund verschwinden wollte. Seine Zunge fühlte sich an, als habe er am Ende des mittelalterlichen Markttages den ganzen Platz sauber lecken müssen.

David riss sich zusammen, machte gute Miene zum bösen Geschmack und war fast froh, als sich die Frau, in die er doch so verliebt war, verabschiedete. Ihm glücklicherweise nur einen trockenen kleinen Lippenkuss verpassend, entschwebte die feenhafte Kira nun seiner Wohnung. Das Milchig-Säuerliche blieb.

David brauchte frische Luft. Er kippte die Fenster und ging spazieren, hinab zum Fluss. David sog die Aprilluft tief in seine Lungen. Um endlich den kohligen Geschmack aus seinem Mund herauszubekommen, beschloss er, eine seiner geliebten Schokoladenpastillen der schottischen Marke „Humblingbridge“ zu lutschen. Langsam und lutschend schritt er an der Promenade des Flusses entlang. Jetzt hatte er den Stadtteil erreicht, in dem in seiner Jugend noch die alte Schokoladenfabrik gestanden hatte. Bei Westwind mischte sich damals der Schokoduft mit bierig-hefrigem Brauereigeruch. Das hatte David niemals gestört, es hatte ihm eher Geborgenheit vermittelt.

Zur Geborgenheit, so überlegte er, hatte es doch auch einen Geschmack gegeben! Eher durch Zufall betrat er die Straße, in der damals vor 30 Jahren Svenja gelebt hatte: Svenja, das Zimt-Mädchen! Zimt! Er wusste nicht, warum sie immer nach Zimt geduftet hatte. Aß sie so viel davon, benutzte sie ein Zimtparfum, schüttete sie sich das Pulver über ihren Körper, ihre Kleider, ihre Schulhefte, badete sie drin? Svenja besaß ein Engelsgesicht und dazu eine Sanftheit, die ihm, dem schüchternen Jungen, damals so gut getan hatte – und dazu der geliebte Zimtduft. Svenja – ganz plötzlich war sie weggezogen, noch zwei Briefe, dann nichts mehr, wo mochte sie nun leben und vor sich hin duften? Etwas wehmütig kehrte David in seine gelüftete Wohnung zurück.

Kira hatte ihm vertrauensvoll den Schlüssel zu ihrer Wohnung überlassen. Am nächsten Tag wollte David in ihrer Küche in Ruhe für sie kochen, schon am Nachmittag, bevor sie von der Arbeit kam. Und David hatte ein Rezept ausgewählt: „Maharadschas Traum“: Hähnchenfilet mit Joghurt, Kardamom, Nelke, Ingwer, Honig und ganz, ganz viel Zimt!

Als David Kiras Wohnung betrat, versuchte er mit aller Gewalt nichts zu riechen. Das war schwierig, denn er konnte sich, mit zwei schweren Tüten bepackt, nicht die Nase zuhalten. Ich ignoriere halt wie es hier riecht!, sagte er sich selbst und stapfte in die Küche. Beim Kochen schaute er ab und zu in Kiras Schränke, nicht gezielt und auch keineswegs auf der Suche nach Kohl oder kohlartigen Gerichten. Und das Rezeptbuch mit Kohlspeisen im Regal übersah er einfach.

David hatte eine große neue Packung Zimt gekauft, mit Bio-Siegel, natürlich echten Ceylon-Zimt und nicht den Cassia-Zimt, der ja so schädlich sein sollte.

Nach dem Kochen hatte er Zeit durch die Wohnung zu wandern. Ohne wirklich darüber nachzudenken, ertappte er sich, wie er hie und da kleine Portiönchen aus der Zimtpackung verstreute: auf dem Teppichboden, in den Bücherregalen, auf dem Schreibtisch, ja, auch unter der Matratze ihres Bettes. Leider war der Zimt ja dunkel und ziemlich auffällig. Ganz kurz überlegte er, ihre Unterwäsche zu bestreuen, aber ging das nicht zu weit? Natürlich, das ging nicht, entschied David und brachte die fast geleerte Zimtpackung zurück in die Küche.

Als Kira nach Hause kam, roch ihre Wohnung dank des träumenden Maharadschas wie eine orientalische Garküche in Damaskus oder in Madras – himmlisch, dachte David. „Eigenwilliger Geruch!“ sagte sie, als sie eintrat, „aber spannend!“ und strahlte über ihr müdes Gesicht. Vor dem Essen wollte sie sich kurz hinlegen, um wieder frisch zu werden.

Da lag sie nun, Kira, die Schöne! Auf ihrem Bett streckte sie ihre hübschen Glieder aus und atmete gleichmäßig. David schnupperte an ihr und da war sie wieder, diese saure Milch! David seufzte, huschte in die Küche, kehrte zurück und begann kleine Prisen Zimt auf die Schlafende zu streuen: auf ihre freiliegende nackte Achsel, aufs Haar, auf den Slip, in ihren Ausschnitt. Ganz wenig natürlich, damit sie nichts davon merkte.

David löschte das Licht und verließ leise das Schlafzimmer. Jetzt schnupperte er in der von vielfältigen Gerüchen durchzogenen Wohnung. Immerhin: den säuerlichen Milchgeruch hatten die exotischen Düfte niedergerungen. Dafür stank es jetzt bestialisch – nach Kohl. Es war wie wenn man den armen Maharadscha in einem norddeutschen Kohlfeld gefoltert hätte.

Wo kam nur auf einmal dieser Geruch her? Hatte Kira noch einen Riesentopf Wirsing von der Arbeit mitgebracht? David öffnete alle Fenster, trat auf den Balkon und atmete tief ein. Dann zog er seine Geheimwaffe aus der Jackentasche und brachte sie vorsichtig zum Tisch. Und da stand er, der Flakon, eine unauffällige, längliche Glasflasche, wunderbar herbsüß duftendes Schokoparfum! Furchtbar teuer.

David versprühte nun sein Wundermittel in Wohnzimmer, Küche, Bad und Flur. Behutsam öffnete er Kiras Schlafzimmertür und betrat vorsichtig den ungelüfteten, dunklen Raum, man hörte nur das leise Zischen des sprühenden Flakons. Weiter sprühend näherte er sich dem Bett, in dem die süße, stinkende Kira schlief. Nein, sie sollte nie mehr stinken! Zärtlich begann er ihren Körper einzusprühen.

Das Zimmerlicht ging an wie ein Blitz und eine fremde Stimme brüllte: „Was machst du da, du Idiot?“ Davids Herz blieb für einen Augenblick stehen, denn Kira lag nicht im Bett, sondern saß im Sessel direkt hinter ihm, und so grob hatte sie noch nie zu ihm gesprochen. Oje, Kira schien ernstlich böse zu sein. „Äh, ist nur Schokoduft! Ist lecker! Riecht gut!“

„Oh nein, das Zeug riecht grässlich! Was fällt Dir ein, alles damit einzusprühen! Oh Gott, die ganze Wohnung stinkt schon danach!“ – „Na ja, es roch ja hier vorher ein wenig streng in der Wohnung und …“ Kira hatte sich erhoben und stand kerzengerade und – trotz ihres Zorns – höchst anmutig im Raum. „So, in meiner Wohnung stinkt’s, ja? Und ich, stinke ich auch? Glaubst Du, ich hätte nicht gemerkt, dass Du überall Zimt verstreut hast? Auch auf meinem Körper! Und ausgerechnet Zimt! Wo ich bei Milchreis mit Zimt immer kotzen musste!“

David war erschüttert. Von Milchreis mit Zimt kotzen müssen! „Nun, ich wollte Dir nicht zu nahe treten. Ich hatte gehofft, der Zimt würde Dir angenehm sein ...Ich wollte deinen Geruch nur, sagen wir mal: etwas aufpeppen! Auch mit dem Schokoparfum …“

„Meinen Geruch aufpeppen! Das ist das Beste, was ich je gehört habe! Hast du eigentlich jemals dich selbst gerochen? Als ich dich kennen lernte, stankst du entsetzlich nach Schweiß. Okay, dachte ich, er ist ja sonst so nett. Du stinkst aus dem Hals. Und ich garantiere dir, dass mit deinen Zähnen auch was nicht stimmt!“

David wollte eigentlich etwas erwidern, doch sein Gehirn schien nicht durchblutet zu sein und kein einziges Wort kam ihm in den Sinn, geschweige denn auf die Zunge. Kira hatte sich immer mehr in ihren Zorn hineingesteigert. Ihre weit aufgerissenen Augen blitzten ihn an. „Und das Widerlichste: Du stinkst wie ein alter Mann! Du bist ein alter Mann! Und jetzt hau ab hier!“

Als David kurz darauf Kiras Wohnung verließ und das Treppenhaus hinunterflüchtete, schluchzte er. Als er auf die Straße trat und die kühle Frühlingsluft atmete, die nach spätem Schnee zu riechen schien, wünschte er nur noch Svenja wieder zu finden.

Dies ist die letzte von vier Seiten mit Geschichten aus dem Erzählwettbewerb. Die ungekürzten Fassungen und weitere Geschichten finden Sie unter www.tagesspiegel.de/erzaehlwettbewerb

KLAUS PILGER (46) ist gebürtiger Rheinländer und arbeitet für den Deutschlandfunk in Köln. Mit seiner Geschichte gewann er den zweiten Preis im Finale der Erwachsenen.

Klaus Pilger

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