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Grundkurs Erzählen, Teil 5: Kampf dem Leiern

Wie man eine Geschichte lebendig vorträgt. Fünfter und letzter Teil des Grundkurses Erzählen, erschienen zum Erzählwettbewerb 2003.

William Warnstedt, der Sieger des Tagesspiegel-Erzählwettbewerbs 2002, begeisterte beim Erzählfest im Ethnologischen Museum die Jury und das Publikum: So spritzig trug er seine Geschichte vom Taxifahrer vor, der in einem weiblichen Fahrgast seine ehemalige Säuglingsschwester entdeckt. Sein Erfolgsgeheimnis verriet Warnstedt nur in kleinem Kreis: Zuerst hat er seine Geschichte auf Band gesprochen, so wie ihm der Schnabel gewachsen war, dann erst hat er sie abgeschrieben, überarbeitet und wieder auf Kassette aufgenommen. Das Vortragen fiel ihm leicht, denn die Geschichte war ja eine mündliche und bewahrte den Schwung der spontanen Sprache.

Beim Erzählwettbewerb sind aber auch andere Wege erlaubt: etwa die Geschichte ganz frei zu erzählen und nur eine schriftliche Zusammenfassung beizulegen. Oder aber, eine Geschichte zu schreiben und den Text dann mehr oder weniger wortgetreu vorzulesen. Aber wie macht man das, ohne ins Leiern oder Nuscheln zu geraten?

Zunächst einmal heißt es, auch vor dem Kassettenrecorder: Haltung annehmen. „Wenn man immer nach unten auf den Text schaut und sich dabei den Kehlkopf abdrückt, kann die Stimme nicht klingen", sagt Rhetoriktrainerin Annette Weber-Diehl, die in der Jury des Erzählwettbewerbs sitzt. „Haltung“ ist aber nicht nur eine Frage der Körperspannung. Fast noch wichtiger erscheint Weber-Diehl die innere Haltung, die man zum Text einnimmt: Will man ihn mit emotionaler Beteiligung vortragen oder mit leicht ironischer Distanz? Spricht man ihn aus der Sicht der Hauptfigur oder aus der Sicht eines nur am Rande beteiligten, vielleicht verwunderten Zuschauers? „Die Bilder müssen wir beim Lesen selbst vor Augen haben, damit sie auch im Kopf des Zuhörers entstehen können, wie Kino im Kopf“, betont Weber-Diehl.

Die mündliche Sprache stellt zahlreiche Ausdrucksmittel bereit: Neben den Pausen auch Stimmklang, Tempo, Artikulation, Lautstärke und Sprachmelodie. In der Variation dieser Ausdrucksmittel liegt die Kunst. Mal leiser und langsamer werden, um die Spannung zu erhöhen, mal laut werden, um Ärger oder Verzweiflung auszudrücken, mal scharf artikulieren, wenn man etwa einen strengen Lehrer sprechen lässt.

„Es geht darum, den Text zu gestalten, nicht ihn zu exekutieren“, sagt Eberhard Ockel, Professor für Sprachwissenschaft an der Universität Vechta. Ockel hat ein Buch zum Vorlesen geschrieben („Vorlesen als Aufgabe und Gegenstand des Deutschunterrichts“, Deutschdidaktik aktuell Band 7, Schneider Verlag 2000) und im Tagesspiegel-Verlagsgebäude ein Seminar für Sieger des Erzählwettbewerbs 2002 geleitet.

Der Eindruck des Geleierten, Abgelesenen entsteht oft dadurch, dass sich die Vortragenden in ihrer Pausensetzung und Sprachmelodie sklavisch an die Regeln der Interpunktion halten. „Lesen Sie so, wie Sie im Alltag sprechen“, rät Ockel. Und das heißt: „Zäsuren sind meist da, wo ein neuer Gedanke auftaucht – nicht da, wo ein Punkt oder Komma gesetzt wird. Und die Betonung sollte auf der jeweils neuen Information im Satz liegen, nicht schematisch am Ende.“ Übung hin, Ausdrucksmittel her: Wenn man eine eigene Geschichte erzählt, kommt es auch auf Authentizität an. „Es gibt Leute, die artikulieren perfekt, und trotzdem rührt uns ihre Geschichte nicht an“, sagt Annette Weber-Diehl. „Andere sprechen monoton, aber wir sind trotzdem gefesselt, weil der ganze Mensch dahinter steht.“ Sie empfiehlt , beim Vortragen vor allem an die Geschichte selbst zu denken.

Eine Regel sollten aber alle Vortragenden beherzigen. „Vor allem Männer haben eine sparsame Kieferöffnung und gespannte Artikulationsbewegungen“, hat Ockel beobachtet. Kauübungen können helfen. Und die Erkenntnis: Wer eine Geschichte vortragen will, muss den Mund aufmachen.

Alle schon erschienenen Artikel sind nachzulesen unter www.tagesspiegel.de/erzaehlwettbewerb . Fragen bitte unter wissen@tagesspiegel.de oder unter 26009 361.

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