zum Hauptinhalt

Gunter Haarmann: "Ein kleiner Engel in der Trümmerwüste"

Sie passt eigentlich nicht zur Jahreszeit- aber diese Weihnachtsgeschichte berührt den Leser auch zur Osterzeit. Sie erzählt von zwei einsamen Menschen, die im Kriegsjahr 1944 zueinander finden. Gunter Haarmanns Erzählung basiert auf einer wahren Begebenheit.

Die alte Frau zündete die vierte Adventskerze an, stützte die Ellenbogen auf dem Küchentisch ab und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Dann rief sie: „Was soll denn nur aus dem Kind werden? Die Mutter ist beim Bombenangriff ums Leben gekommen und der Vater in Russland gefallen. Ich habe Angst vor diesem Weihnachtsfest! Der Junge kann nicht verstehen, dass seine Eltern tot sind und Weihnachten ohne seine geliebte Mutter ist für ihn nicht vorstellbar. Ich bin eine alte Frau, verbraucht und müde.“ Sie versorgte ihr Enkelkind so gut es ging. Doch ihre Kräfte ließen nach und sie ahnte, dass der Tod bald an ihre Tür klopfen würde. Sie stand auf, riss das Fenster auf und rief hinaus: „Max, Max, komm sofort nach Hause!“ Die wenigen Kinder, die noch in der Straße wohnten, spielten mit Vorliebe in den Trümmern oder suchten in den Ruinen nach verborgenen Schätzen: nach Habseligkeiten der einstigen Bewohner. Das war ihre Welt, etwas anderes kannten sie nicht. Max hielt sich mal wieder in seiner Lieblingsruine auf. Der linke Flügel des Gebäudes mit Kamin war nur ausgebrannt, über eine Treppe konnte man noch den ersten Stock erreichen oder man stieg hinab in den winzigen Teil des noch zugänglichen Kellers. Er beobachtete einen Mann, der mit gesenktem Kopf und leicht nach vorn gebeugt auf den Eingang des Kellers zuging. Kurz davor blieb er stehen, schaute hastig nach links und rechts, schob etwas, das unter dem Mantel versteckt war, zu recht und betrat den Keller.

Behutsam öffnete Max die Tür und warf einen scheuen Blick in den Keller. Die Einrichtung dieser armseligen Behausung, die von rußgeschwärzten Wänden eingerahmt war, bestand aus einem in der Mitte stehenden Tisch, dessen Holz angekohlt war, einem flachen, länglichen Gestell an der Wand, das als Bett diente, und einer Holzkiste, auf der der Mann saß, das Gesicht mit der rechten Hand verdeckt. Er hatte das Öffnen der Tür bemerkt und schaute auf den Eingang. „Wohnst du hier?“, fragte Max. „Ja,“ antwortete der Mann. „Hast du keine Familie?“, wollte Max wissen. „Meine Familie,“ er zeigte mit der ausgestreckten Hand auf den zerstörten Teil des Kellers, „ist da umgekommen, keiner hat überlebt.“ Max sah einen Uniformmantel an einem Nagel hängen und sagte: „Mein Vater hat genau den gleichen Mantel.“ Der Mann stand auf, ging auf Max zu und reichte ihm die Hand. „Ich heiße Wilhelm und wie heißt du?“ „Maximilian, aber alle sagen Max zu mir.“ Wilhelm erzählte, dass er Soldat sei und seine Einheit verlassen habe. Er bat Max, niemandem davon zu erzählen. Wenn er entdeckt werde, sei für ihn alles aus. „Dieser Krieg, dieses sinnlose Töten — nein, nein, nein. Ich kann nicht mehr, ich will auch nicht mehr. Hier bleibe ich, bis alles vorbei ist.“ Max verabschiedete sich und Wilhelm rief ihm nach: „Nicht vergessen: Keiner darf erfahren, dass ich mich hier aufhalte und wenn du mich besuchst, sei vorsichtig!“

Max spielte jetzt nicht mehr in „seiner Ruine“. Doch besuchte er jeden Tag den einsamen Mann in seiner Kellerwohnung und brachte mal etwas Obst oder Brot mit, denn er glaubte, Wilhelm würde in seinem Versteck Hunger leiden. „Obwohl ich mich verstecken muß, ein paar ‚Besorgungen’ kann ich trotzdem noch machen, wenn die Luft rein ist“, sagte Wilhelm, „ganz merk-würdig, keiner schaut den anderen mehr so richtig an, darum erkennt mich wohl auch keiner“. Wilhelm war von der Zuneigung des Jungen angetan und fragte: „Bist du mein Freund?“ Max nickte. Er ging auf den Jungen zu und umarmte ihn. „Morgen ist Weihnachten!“, rief Max, dann werde ich dir etwas schenken.“ Wilhelm spürte seit langer Zeit wieder echte Freude und rief spontan: „Wir werden morgen zusammen eine kleine Weihnachtsfeier machen. Ich sammle Holz und heize kräftig ein, damit es hier wärmer wird. Ein paar Tannenzweige finde ich schon und ein Kerzenstummel ist auch noch da.“ Wilhelm und Max verabschiedeten sich in der Hoffnung auf einen schönen Weihnachtstag.

Einen Tag vor Weihnachten holte die Großmutter einen Schuhkarton hervor, der als Nähkästchen diente; er war als Geschenkpäckchen vorgesehen. Während Großmutter und Max den Karton mit feinem Papier ausschlugen, mit Äpfeln, Brot, Wurst und selbstgebackenen Plätzchen füllten, sangen sie dazu das Weihnachtslied „Morgen Kinder, wird`s was geben, morgen werden wir uns freuen . . .“ Zum Schluss griff Max in seine Hosentasche, holte noch zwei Bonbons heraus und legte sie dazu. Der Karton wurde in Weihnachtspapier verpackt und in schöner Schrift stand nun darauf: Frohe Weihnachten 1944.

Max schüttelte seine Großmutter und rief: „Oma, wach doch endlich auf, wir haben heute Weihnachten. Wenn wir nachher alle beisammen sind, ist doch Bescherung.“ Aber die Großmutter wachte nicht mehr auf, sie hatte sich für immer schlafen gelegt. Max stand verwirrt an ihrem Bett. Dann rannte er in die Küche, holte das Päckchen, um es Wilhelm zu bringen. Auf dem Weg dahin fiel ihm auf, dass Wilhelms Kamin, gestern noch weithin sichtbar rauchend, jetzt erloschen war. Ein älterer Mann in brauner Uniform rief von der gegenüberliegenden Straßenseite: „Wo willst du denn hin am Weihnachtsmorgen?“ „Das Geschenk abgeben“, erwiderte Max. „Hier wohnt doch keiner mehr,“ argwöhnte er, „doch wohl nicht zu dem da?“, er zeigte auf Wilhelms Keller. „Den Weg kannst du dir sparen. Das ist ein Deserteur, der wird auf dem Schulhof erschossen — solche Leute haben wir gerne, andere halten den Kopf hin und die verkriechen sich.“ Max lief so schnell er konnte zum nahegelegenen Schulhof. Zwischen dem Schulgebäude und der Turnhalle war ein dreizehn Meter breiter Abstand. Hier standen drei Soldaten nebeneinander, jeder ein Gewehr in der Hand. Genau gegenüber, mit dem Rücken an der Abschlussmauer, Wilhelm, und links davon, ein paar Meter entfernt, ein Offizier. Max ging zu dem Offizier und fragte: „Darf ich noch einmal mit dem reden?“ er zeigte auf Wilhelm. „Kennst du ihn?“, wollte der Offizier wissen. Max antwortete: „Ja, er ist mein Freund.“ „Aber nur ganz kurz, dann musst du verschwinden.“ Max ging auf Wilhelm zu und sagte: „Willem, komm — komm mit — Willem, komm doch!“ Max nahm Wilhelms Hand und zog ihn zu sich. Dann gingen sie ganz langsam, in kleinen Schritten, fest aneinander gepresst, die Hände ineinander verkrampft auf das Erschießungskommando zu. Die Soldaten ließen sie passieren und schauten dabei auf den Offizier. Der stand unbeweglich da, sagte kein Wort, schaute nur in den Himmel. Wilhelm und Max gingen weiter, immer weiter, immer weiter und ließen sich nicht mehr los.

Zur Startseite