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Gesellschaft: Quetzalcoatls Rache - von Melanie Krebs

Eine Nacht, ein Geruch, ein Geschmack: Plötzlich ist alles anders im Ethnologischen Museum

Es war in einer Vollmondnacht (solche Dinge ereignen sich immer in Vollmondnächten), als sich in den stillen Räumen des Ethnologischen Museums plötzlich etwas veränderte. Zuerst war es mehr ein Gefühl, eine Ahnung, dass in den eben noch leeren Räumen jemand war. Die Statue des Gottes Quetzalcoatl, die gefiederte Schlange, auf einem der Podeste der Mittelamerikasammlung hob ein wenig den Kopf und blickte zu den Keramikgefäßen in einer der Vitrinen hinüber.

Wie auf einen Ruf hin löste sich eine der gemalten Gestalten aus einer Schale, glitt durch die Glasscheibe auf den Boden und nahm die Schale an sich, die nun mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllt zu sein schien. Die schattenhafte Gestalt sah sich kurz suchend um, bevor sie zu der steinernen Federschlange hinüberschwebte, sich vor ihr verneigte und ihr vorsichtig eine Feder ausriss. Die Feder immer wieder in die geheimnisvolle Flüssigkeit tauchend, strich sie langsam über jedes der großen Steinobjekte. Schließlich hob sie die Schale an die Lippen, trank den Rest aus, stellte die Schale zurück an ihren Platz und war im selben Moment in ihr verschwunden. Alles schien wie zuvor. Nur die Federschlange gestattete sich ein genießerisches Lächeln der Vorfreude.

Die erste, die die Veränderung registrierte, war die Frau von der Museumsaufsicht. Schon beim Betreten des Mittelamerikaraumes hatte sie einen plötzlichen Heißhunger auf Schokolade verspürt, der sich mit jeder Minute, die sie zwischen den Objekten entlangging, verstärkte. Zuerst schob sie es auf die Nachweihnachtsdiät, mit der sie seit einigen Tagen kämpfte, aber nach einiger Zeit konnte sie den Geruch nicht mehr auf den Hunger und die ungewöhnliche Färbung der Steine nicht mehr auf das seltsame Dämmerlicht des frühen Wintertages schieben. Entsetzt rannte sie zum Telefon. Erst wollte der armen Frau keiner glauben, aber schließlich siegte doch auch bei Wissenschaftlern und Restauratoren die Neugier. Die nach und nach Eintreffenden mussten der verstörten Aufsicht recht geben: Die wertvollen Stein- und Keramikobjekte bestanden plötzlich aus – Schokolade.

Im ersten Schreck geäußerte Vorschläge wie die Polizei (wahlweise auch die Generaldirektion oder den psychiatrischen Notdienst) zu rufen, wurden verworfen und stattdessen begannen alle, die nicht dringend an anderen Stellen gebraucht wurden, das Problem mit den vertrauten Mitteln anzugehen: mit Maßband, Karteikarten und Photoapparat hoffte man, die Veränderung, wenn auch nicht zu erklären, so doch zu dokumentieren.

Im Laufe des Nachmittages kam es kurzzeitig zu unschönen Szenen, als eine unterzuckerte Volontärin bei der Untersuchung einer Hieroglyphenstele die Beherrschung verlor und nur mit Mühe davon abgehalten werden konnte, den unersetzlichen Fund aufzuessen. Ansonsten wurde intensiv gearbeitet und gegen Abend standen die vorläufigen Ergebnisse fest: Die Objekte waren in Größe und Form genau wie zuvor. Selbst kleinste Unregelmäßigkeiten, mit bloßem Auge kaum zu erkennen, waren genau wie zuvor dokumentiert. Nur, dass sie nun zweifelsfrei aus Schokolade waren. „Edelbitter“ ergänzte die Volontärin schuldbewusst. Sie war, von der resoluten Kantinenchefin mit einer großen Portion des Tagesgerichts aufgebaut, wieder zu der Gruppe gestoßen. Ihre Blässe fiel nicht weiter auf. Auch die älteren Wissenschaftler wirkten verstört. Man einigte sich darauf, über den Vorfall zu schweigen und ging mit der Hoffnung nach Hause, am nächsten Morgen würde sich die absurde Situation als Traum herausstellen.

Weit gefehlt. Im Gegenteil: Das Problem schien ansteckend zu sein. Zuerst zog der Schokoladengeruch durch die Südsee-Abteilung, wo das neue Material an Objekten aus Holz, Rinde oder Palmwedeln den Begriffen der Borken- und Blattschokolade eine ganz neue Bedeutung gab. Am nächsten Tag zeigte die Nordamerikasammlung an ihren Leder- und Holzobjekten, wie viele Brauntöne – von cremeweiß bis fast schwarz – Schokolade annehmen kann. Afrika hielt am längsten Stand, aber nach wenigen Tagen wurde klar, dass die Schokolade auch hier vordrang und den ausgestellten Kunstwerken ganz neue Interpretationsmöglichkeiten verlieh.

Die Wissenschaftler waren ratlos. Die Restauratoren hilflos. Das Aufsichtspersonal von naschhaften Besuchern überfordert. Die Stimmung wurde immer angespannter. Sie eskalierte an dem Tag, an dem es in der Kantine Mousse au Chocolat gab. Ein Wissenschaftler meinte, in dem Dessert eines seiner Lieblingsobjekte wiederzuerkennen. Bevor sich herausstellen konnte, dass es sich um einen Irrtum handelte, war die Kantine ihrerseits kaum noch wiederzuerkennen. Es war klar, dass etwas geschehen musste. Aber keiner wusste, was.

Die Erforschung des Problems ging weiter. Für die dringendste Frage, der nach der Rückverwandlung der Objekte in den ursprünglichen Zustand, fühlte sich allerdings keine der bekannten und angefragten wissenschaftlichen Kapazitäten verantwortlich. Von Lebensmittelchemikern untersuchte Proben zeigten lediglich, dass es sich bei dem neuen Material um hochwertige Schokolade handelte, die man bedenkenlos verkaufen könne. Leider erwiesen sich die für die Sammlungen zuständigen Wissenschaftler bei diesbezüglichen Anfragen als absolut taub.

Schließlich gewöhnte sich die Museumsbelegschaft an die neue Situation. Der sprunghafte Anstieg der Besucherzahlen spielte dabei sicher eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ihm verdankte das Museum, dass es die nötig gewordene Verdoppelung des Aufsichtspersonals bezahlen und seine Restauratoren zu Fortbildungen bei den namhaftesten Konditormeistern der Welt schicken konnte. Mit Arbeiten wie „De- und Reschokoladisierungsprozesse in Mittelamerika. Eine postkoloniale Kakaoanalyse“ und „Schokolade im Dialog. Metaphorik des Süßen in globaler Perspektive“ setzten die Berliner Museumsethnologen darüber hinaus weltweit vollkommen neue wissenschaftliche Maßstäbe. Aber das ist eine andere Geschichte.

MELANIE KREBS (30) ist Islamwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Zentralasien. Sie arbeitet als wissenschaftliche Assistentin im Ethnologischen Museum in Dahlem.

Melanie Krebs

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