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Sarah Buck: Dr. Bocks Fest

Erwachsenenbeitrag

Dr. Bock betritt die Terrasse seines Hauses und lässt den Blick über seinen Garten schweifen. Da, hinter der Eiche, die er selbst vor über 50 Jahren gepflanzt hat, sieht er die schwarz-weiße Nachbarskatze auf der Lauer liegen. Sie wartet nur darauf, dass eines seiner Vögelchen vorbeikommt, um sich darauf zu stürzen. Dr. Bock nimmt also seine Steinschleuder, deren Umgang er seit dem Alter von fünf Jahren exzellent beherrscht, und feuert auf die Katze einen wallnussgroßen Stein ab, von denen er immer einen gewissen Vorrat bei sich hat. Jaulend springt die Katze auf und rast davon. „Jawohl!“ ruft er erfreut aus. Zufrieden über diese erfolgreiche Vertreibung wickelt er sich in eine Wolldecke, setzt sich auf eine Bank und lauscht dem Vogelgezwitscher und der Ruhe seines Gartens. „Vater.“ Dr. Bock schreckt hoch, er muss wohl eingeschlafen sein. Vor ihm steht Marianne, seine Älteste. „Ich habe dir deinen Tee zubereitet und hier ist noch ein Stück Kuchen.“ „Hervorragend“, erwidert er mit rollendem R und streckt seine Arme aus, die steif gewordenen Glieder lockernd. „Komm, setz dich zu mir und lausche dieser göttlichen Stille.“ Rrrrring. Als wolle es seine Worte dementieren, schallt in diesem Moment das Klingeln des Telefons aus dem Haus. Marianne geht hinein und er hört leises Gemurmel. Von ihm aus könnte man das Telefon ganz abschaffen. Jetzt, wo Marianne bei ihm wohnt, braucht er es auch nicht mehr, um seine Kinder anzurufen. Das hat er nach dem Tod seiner lieben Helene öfters getan, um sich bemerkbar zu machen, wenn er sich einsam fühlte. Eines von ihnen, von den sechsen, kam dann immer zu ihm. Nachdem er dann, ganz aus Versehen selbstverständlich, einen Wasserschaden im Badezimmer und einen kleinen Brand in der Küche verursacht hatte, einigten sich die Kinder schließlich auf regelmäßige Besuche, immer abwechselnd. Aber so, wie es jetzt ist, mit Marianne, gefällt es ihm am besten. Seine Älteste ist ruhig und zuverlässig, kein dummes Geschwätz und nicht jede Woche neue Gesichter um ihn herum. Wenn die anderen kommen, artet es manchmal ins für ihn Unerträgliche aus. Sie bringen ihre Kinder, seine Enkel, oder gar noch die Urenkel mit, so dass das ganze Haus erfüllt ist von Gerede, Gerumpel und Geschrei. Was hat Marianne da so viel zu bereden, fragt er sich gerade, als sie wieder auf der Terrasse erscheint. „Na, was gab’s?“ „Das war Ute.“ „Und was gab’s da so lange zu reden?“ „Das ist ein Geheimnis, eine Überraschung.“ Oh Graus. Vor Schreck verirrt sich der Tee in der Luftröhre und Dr. Bock verteilt ihn laut prustend in feinen Tröpfchen auf seiner Decke und auf Marianne. War es etwa schon wieder so weit? War tatsächlich schon wieder ein Jahr herum? „Keine Überraschungen“, bringt er mit einem dunklen Grollen hervor. „Bloß keine Überraschungen. Und vor allem, dieses Jahr KEIN Fest.“ „Du wirst immerhin 90, das passiert nicht alle Tage.“ „Wollt ihr mich an meinem 90. Geburtstag ins Grab bringen? Der ganze Trubel ist viel zu anstrengend für mich.“ „Ach Vater, das wird schön, du wirst schon sehen. Dieses Mal haben alle vor zu kommen, auch die, die seit Jahren nicht mehr hier waren.“ „NEIN!“ Zur Unterstreichung haut Dr. Bock mit der Faust auf den Tisch. „Das ist immer noch mein Haus und das ist mein Geburtstag und den will ich in Ruhe und Frieden verbringen, ohne diese Hammelherde.“ „So rede ich nicht mit dir. Beruhige dich und wenn du nicht mehr so schreien musst, dann gib mir Bescheid.“ Marianne steht auf und geht ins Haus. Nach einer Weile hört er sie wieder murmeln. Diese ungehorsamen Kinder, wer hat sie so verzogen? Wie kommt es, dass sie so unverschämt sind? Einfach wegzugehen, wenn er mit ihr redet. Seine Hand schmerzt ihn und er geht in die Küche, um sich einen kühlenden Wickel zu machen.

„...aber ich sage dir, so kann er uns nicht tyrannisieren. All die Jahre, die wir uns nun schon um ihn kümmern und alles soll immer nur nach seinem Kopf gehen...“ Wenn er die Luft anhält, kann er die Stimme von Marianne hören, die im Wohnzimmer telefoniert. „Kann er sich nicht vorstellen, dass wir vielleicht unsere Freude an einem Fest haben?...Ja...ja, genau...“ So ein geschwätziges Weibsbild. Verdammt sei diese ganze Bagage. Sein Kopf fängt an zu brummen. Jetzt muss er nachdenken, Ruhe bewahren und gut nachdenken. Er drapiert sich einen nassen Waschlappen auf der Stirn und legt sich auf das Sofa. Nach einigen endlosen Minuten kommt Marianne ins Zimmer.

„Marianne“, wimmert Dr. Bock. „Ich habe solche Kopfschmerzen. Ich fürchte, das wird alles zu viel für mich.“ Weinerlich nimmt er ihre Hand und legt sie sich aufs Gesicht. „Ich bin nun schon mal ein alter Mann, der nicht mehr so viel Aufregung verträgt.“

„Es wird gefeiert und damit Basta.“ Mit diesen Worten verlässt Marianne den Raum und Dr. Bock spürt, dass er die Schlacht verloren hat. Zum verrückt werden ist das, diese Bälger tanzen ihm auf der Nase herum. Doch plötzlich huscht ein leichtes Lächeln über sein Gesicht. Nun gut, dieses eine Mal soll also noch gefeiert zu werden. Aber die nächsten zehn Geburtstage, denn er weiß, dass er mindestens hundert Jahre alt werden wird, die wird er ganz nach seinen Vorstellungen verbringen. Das schwört er sich.

Schon Tage vor dem schrecklichen Ereignis geht es los. Alle möglichen Familienmitglieder reisen an und nisten sich in seinem Haus ein. Jeden Tag kommen weitere dazu und Dr. Bock verflucht sich, dass er so viele Kinder in die Welt gesetzt hat, und dass diese sich wie die Fliegen vermehrt haben. Widerliche Schmeißfliegen, er könnte sie alle an die Wand klatschen, wie sie hier herumlaufen, als sei das ihr Haus. Was ist passiert? Wenn sie sich früher um den großen Esstisch versammelten, an dessen Tischende er trohnte, lauschten alle aufmerksam, was er zu berichten hatte von seiner Arbeit als Dorfarzt, den Erlebnissen der Kriegsjahre und seinen Ansichten zur Weltpolitik. Nun geht er unter in diesem bunten Haufen, der ihm unverständliches Zeug plappert, und von dem nur ab und an einer das Wort an ihn richtet, in einer Art und Weise, als sei er ein debiles Kleinkind. Also gut, denkt sich Dr. Bock, ganz wie ihr wollt.

„Du“, sagt seine Tochter Ingrid zu Marianne, als er schnarchend und vermeintlich schlafend auf dem Sofa liegt. „Du hast gar nicht erzählt, wie sehr der Vater abgebaut hat. Meine Anna hat er gar nicht mehr erkannt und mich hat er erstmal mit Ute angesprochen.“ „Ach ja?“, erwidert Marianne in gleichgültigem Tonfall, was Dr. Bock außerordentlich verärgert. „Wo geht’s denn hier zum Klo?“, fragt er seinen Sohn Gunther am nächsten Tag. „Können sie mir das sagen?“ Erschrocken schaut Gunther ihn an, aber da huscht Dr. Bock schon weiter und zieht seiner kleinen Urenkelin im Vorbeilaufen an ihrem langen Zopf. „Aua“, schreit diese auf. „Der alte Opa zieht mich an den Haaren.“ „Quatsch kein blödes Zeug“, sagt ihre Mutter, die nichts gesehen hat. „Warum sollte er denn so was tun?“ „Hast du schon gemerkt, wie der Opa riecht?“, hört er zwei seiner Enkel tuscheln, und freut sich, dass es endlich Wirkung zeigt, dass er sich schon seit über einer Woche weder gewaschen noch seine Wäsche gewechselt hat.

Am Abend vor dem großen Tag läuft Dr. Bock dreimal gegen die Glastür der Terrasse, verschüttet seinen Saft über dem teuren Angorapulli seiner Tochter Irma, popelt beim Essen in der Nase und lutscht danach gedankenverloren an seinen Fingern. Bei jedem zweiten Satz, der an ihn gerichtet wird, sagt er mit einem möglichst stumpfsinnigen Lächeln „Ja, ja, so, so“. Zufrieden schläft er ein und kann sich sogar fast ein bisschen auf den nächsten Tag freuen.

Am Morgen seines Geburtstages steht er früh auf und geht in seinem weißen langen Nachthemd die Treppe runter. „Guten Morgen, Vater“, grüßt ihn sein Sohn Manfred. „Alles Gute zum Geburtstag! Sag mal, willst du dir nicht lieber was anziehen? Es ist recht kalt im Haus...“ „Kümmern sie sich um ihren Dreck“, erwidert Dr. Bock, schlüpft Barfuss in ein Paar grüner Gummistiefel und macht Anstalten das Haus zu verlassen. Gunther kommt dazu, stellt sich seinem Vater in den Weg und hält ihn am Arm fest. „Aber in diesem Aufzug kannst du doch nicht das Haus verlassen, Vater!“ „Lass mich“, kreischt Dr. Bock. „Ich muss Kuchen besorgen, ich habe doch viele Gäste und Gebuuuuurtstag.“ Manfred und Gunther tauschen entgeisterte Blicke aus. Bei dem Lärm kommen nach und nach weitere Familienmitglieder aus ihren Zimmern. „Sag mal, Marianne“, sagt Ute. „Sollen wir nicht lieber alles abblasen, dem Vater wird es zu viel, fürchte ich, der dreht ja total durch. Vielleicht gehen wir mit ihm lieber mal zum Dr. Berger.“ „Es wird gefeiert“, sagt Marianne und schaut ihrem Vater dabei tief in die Augen. „Macht euch keine Sorgen, ich kümmere mich um ihn.“ Sie hakt ihren Vater unter und führt ihn in sein Schlafzimmer. „Jetzt ist aber Schluss mit dem Theater“, faucht sie ihn an. „Entweder du benimmst dich jetzt anständig, oder ich schließe dich in deinem Zimmer ein.“ Und so redet seine eigene Tochter mit ihm? Das wird sie nicht wagen, die brave Marianne, die sich früher nicht getraut hätte, ihm auch nur ansatzweise zu widersprechen. Eine ordentliche Tracht Prügel hätte er ihr damals verpasst, dem frechen Gör. Aber jetzt muss er eine andere Taktik wählen. „Gebuhuhuhuhuhurtstaaaag...“, singt er leise vor sich hin und starrt auf den Fußboden. „Ich sehe, du willst es nicht anders“, sagt Marianne, verlässt das Zimmer, den Schlüssel in der Hand, und schließt tatsächlich die Tür ab. Ungläubig starrt Dr. Bock auf die verschlossene Tür, rüttelt daran und setzt sich dann benommen auf sein Bett.

Am Mittag ist das Fest in vollem Gange. Das Haus und der Garten sind voller Menschen. Nicht nur die gesamte Familie ist gekommen, auch viele Leute aus dem Dorf, Freunde, Nachbarn, ehemalige Patienten und soeben klingelt sogar der Bürgermeister an der Tür, um persönlich seine Glückwünsche zu überbringen. „Ja, das ist schade“, sagt Marianne immer wieder. „Das er ausgerechnet an diesem Tag diese schreckliche Grippe bekommen hat. Aber er hat sich gewünscht, dass wir trotzdem feiern.“ „Du, Marianne“, die Kleine mit dem langen Zopf zupft an Mariannes Hemd. „Der Opa hängt nackig am Haus.“ Mit einem süßen Lächeln, das sich innerhalb weniger Sekunden zu einer wütenden Grimasse verzieht, dreht sich Marianne zu der Kleinen um. „Wo“, fragt sie nur. Das Mädchen nimmt Marianne bei der Hand und führt sie in den Garten. Die Leute schauen erschrocken nach oben und Marianne folgt ihren Blicken. Und tatsächlich: da sitzt ihr Vater auf dem Fenstersims, nackt, bis auf einen Lendenschutz, sein Nachthemd, das er sich um die Hüfte gewickelt hat.

„Ich freue mich, dass ihr so zahlreich erschienen seid“, ruft er seinen Gästen entgegen. „Ja, ja, neunzig wird man nicht alle Tage, das muss gefeiert werden. Und deswegen habe ich eine ganz besondere Überraschung für euch vorbereitet.“ Der erste Stein trifft den vor Schmerz aufschreienden Manfred am linken Ohr. Dann erwischt es Irma an der Schulter und gleich darauf hinterlässt ein weiterer Stein eine kleine Beule auf Utes Stirn. In Blitzgeschwindigkeit feuert Dr. Bock mit seiner Steinschleuder einen Stein nach dem anderen auf die Geburtstagsgesellschaft ab. Erst hat er es insbesondere auf seine Kinder abgesehen, dann, noch ehe alle begriffen haben, was da vor sich geht, beginnt er wahllos in die Menge zu schießen. Für den Fall, dass ihm die Steine ausgehen, hat er sich einen Vorrat weiterer Utensilien bereitgelegt. Alte Parfumflakons, Pillendöschen und Schmuckstücke seiner lieben Helene fliegen durch die Gegend. Als er Marianne erblickt, greift er zu dem extra für sie reservierten Geschoss. Die Puderdose rast auf Marianne zu und explodiert in einer großen weißen Wolke an ihrem Kopf.

Dr. Bock sitzt in seinem Garten und lässt sich die Sonne auf seine Nase scheinen. Als er die schwarz-weiße Katze hinter der Eiche sieht, schüttet er etwas Milch in eine Untertasse, krümelt ein bisschen von dem Kuchen, den ihm Marianne gebracht hat, dazu und stellt sie auf den Boden. „Komm, mietz, mietz, komm zum Opa.“ Langsam und Dr. Bock genau im Auge behaltend, schleicht sich die Katze zu der Untertasse und schlürft in geduckter Haltung die Milch, jederzeit zur Flucht bereit. Dr. Bock streicht ihr mit seinen großen Händen über den Rücken und krault sie am Ohr. „Hast du das mitbekommen, Mietze, was für ein schönes Fest wir hatten? Ein ganz hervorragendes Fest.“

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