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© Doris Klaas

Statistik: Berliner Kidskultur

Die Stadt der vielen Kieze ist ein Flickenteppich verschiedener Familientypen. Rund 430.000 Familien zählt die Statistik. Viele Frauen sorgen alleine für ihr Kind.

Der Reichtum Berlins liegt in seiner Vielfalt – nirgendwo gibt es mehr Ethnien und Kulturen, nirgends mehr Lebensentwürfe. Deshalb findet, wer nach der typischen Berliner Familie sucht, hier auch nicht das eine Berliner Beispiel, sondern die unterschiedlichsten Familientypen und Lebensgemeinschaften. Für die meisten von ihnen ist das Leben in der Vorstadt unerreichbar. Die City rückt ins Zentrum, wer in der Peripherie lebt, hat entweder sehr viel Geld oder sehr wenig.

Die Rückkehr des Familienlebens in die Stadt hängt mit dem Rückzug der Produktion aus der City und dem Zurückdrängen des Verkehrs zusammen. Es hat aber auch mit dem Angebot zu tun: an Cafés und Kultur, an Läden und Leuten. Und natürlich an Jobs. Vor allem das ist wichtig, weil „Familien mit zwei berufstätigen Elternteilen typisch sind für Großstädte heute“, sagt der Familienforscher Hans Bertram. Er gehörte zum Kompetenzzentrum der früheren Familienministerin Ursula von der Leyen und nennt die Berufstätigkeit sowie die wachsende Zahl der Alleinerziehenden die zwei „massiven Veränderungen“ des großstädtischen Familienbildes in den vergangenen 20 bis 30 Jahren.

„Junge Leute sind schon immer in die Stadt geströmt, um hier ihr Glück zu suchen“, sagt Hartmut Häussermann, Verfasser zahlreicher Studien über die sozialen Trends in Berlin. Aber anders als früher ziehen sie nicht mehr ins Umland, wenn sie einen Partner gefunden haben und Kinder bekommen. Haus und Garten in der Vorstadt, Mutter am Herd, Vater im Büro – das Familienmodell der 60er und 70er Jahre wird allenfalls in bürgerlichen Wohlstandsoasen im Südwesten der Stadt gelebt oder an den fernen Rändern Berlins. Allenfalls wenn die Kinder älter sind, vier bis sieben Jahre, wandern manche doch noch in den Speckgürtel ab: „Weil im Eigenheim mit Jägerzaun Kinder etwa 80 Minuten unbeaufsichtigt bleiben können, in der Stadt dagegen allenfalls 30 Minuten“, sagt Familienforscher Bertram. Auch wenn die Eltern eine Fahrzeit von 30 Minuten auf sich nähmen, „rechne“ sich ein Umzug also noch. Aber wie und wo wohnen Familien in Berlin eigentlich und wie könnte man sie unterscheiden?

Familie, Typ Prenzlauer Berg

Beide haben studiert, haben reichlich berufliche Praxis aus vielen befristeten Jobs und Aufträgen, und sie wollen Kinder. Dafür will aber keiner der beiden Partner seine Arbeit aufgeben. Die Frau ist emanzipiert, ganz selbstverständlich. Aber auch wenn einer kürzer treten wollte, er kann es nur selten: Weil der Arbeitsmarkt kaum feste Stellen bietet und Beschäftigungsverhältnisse oft prekär sind. Deshalb ist der Umzug an den Stadtrand auch aus wirtschaftlichen Gründen selten möglich: „Sie würden sich ins soziale und berufliche Aus manövrieren, denn sie brauchen die Kontakte zu den anderen Kreativen, ihre Tipps und Projekte“, sagt Soziloge Häussermann. Auf die „urbane Infrastruktur“ sind sie auch wegen der Kinder angewiesen: In den Kitas und Kindercafés kommt der Nachwuchs in der Arbeitszeit unter, es gibt genug Schulen und Horte, die Kinder notfalls auch ganztags betreuen. Kinderreich sind die Familien des Typs Prenzlauer Berg übrigens nicht – statistisch haben dort Frauen im gebärfähigen Alter sogar weniger Babys als im Berliner Durchschnitt. Die größte Hypothek dieses Familienentwurfs: Es fehlt an bezahlbarem Wohnraum in der City. Und auch das Umfeld ist trotz des Babybooms nicht überall kindergerecht.

Familie, Typ Migrant

Neun von zehn Kindern in den Schulen von Weddings Soldiner Kiez sind Kinder von Migranten. Tendenz steigend. Viele Familien haben Wurzeln in der Türkei oder in arabischen Staaten. Als Gastarbeiter oder Flüchtlinge kamen sie nach Berlin und zogen dorthin, wo die Mieten günstig sind; da leben oft auch Freunde oder Verwandte. Sie brachten ihre Kultur mit und ihre Traditionen. Die Familie und ihr Zusammenhalt ist ihnen heilig, zwei und mehr Kinder sind üblich. Nirgendwo in Berlin gibt es mehr Haushalte mit drei oder noch mehr Kindern als in Neukölln, wo die Zahl der Migranten weit überdurchschnittlich ist. Der Babyboom findet statistisch in den sozialen Brennpunkten statt – nicht unter EU-Migranten in Prenzlauer Berg.

Die Erwerbslosigkeit, die überdurchschnittlich viele Migranten betrifft, gefährdet das Familienband nicht. „Aber in der zweiten oder dritten Generation orientieren sich die Kinder der Gastarbeiter am westlichen Leitbild“, sagt Häussermann. Auch Mädchen gehen auf Gymnasien, viele studieren. Die Frau ist nicht mehr nur Mutter. Einige, denen die Qualifizierung berufliche Karrieren ermöglicht, ziehen weg: nach Mariendorf oder Lichterfelde. Charlottenburg und Schöneberg bleiben aber beliebt, Kreuzberg natürlich auch – „wo es den türkischen Laden gibt und die Moschee“, sagt Häussermann. Tradition und Anpassung ist das bisweilen schicksalhafte Spannungsfeld, in dem sich die Berliner Familie Typ Migrant bewegt.

Familie, Leben in Abschnitten

Überraschend an der neuen Berliner Familien-Unordnung ist: Die Zahl der Alleinerziehenden nimmt nur mäßig zu. Andererseits zeigt die mittlere Größe der Haushalte (1,7 Personen), dass die Kleinfamilie, darunter auch die gleichgeschlechtliche, das am weitesten verbreitete Lebensmodell in der Großstadt ist. „Alleinerziehende haben oft feste Partner, aber die haben selbst auch ihre eigene Wohnung“, sagt Häussermann. Frauen mit zwei Kindern von zwei verschiedenen Vätern, die mit dem dritten zusammenleben, werden Normalität,Familiengründung auf Zeit auch. „Familiäre Arrangements“ nennt es Häussermann. Es ist eine Variante des Familien-Patchworks, zu denen sich verheiratete Paare zusammenfinden, die Stiefkinder aus früheren Beziehungen des Partners ganz selbstverständlich „adoptieren“. Die „Buntheit der Familienentwürfe“ ist für Großstädte typisch, weil sie von der Zuwanderung profitieren, so Bertram. Deshalb altere Berlin langsamer als Brandenburg. Und in Berlin wird statistisch ein Säugling mehr pro tausend Bewohner geboren als im deutschen Durchschnitt. Doch auch die Kinderarmut ist weiter verbreitet. Auch wegen der vielen Alleinerziehenden.

Familie, Typ Reinickendorf

Reinickendorf, das war in den Jahrzehnten des geteilten Berlins die Wahlheimat der Arbeiterfamilien, die an den Werkbanken oder im Akkord im benachbarten Stadtteil Wedding gutes Geld verdienten. Am Abend, wenn die Werkstore schlossen, zogen sie nach Norden ins Grüne. Wenngleich es viele große Fabriken mittlerweile nicht mehr gibt, so leben auch heute noch viele Facharbeiter und Angestellte in Reinickendorf, sagt Häussermann. „Kleinbürger“, könnte man auch sagen. Ihr Lebensentwurf: Der Mann bringt das Geld nach Hause, die Frau betreut Kinder und Haushalt. Es ist die westberlintypische Variante des Vorstadtlebens. Seit dem Fall der Mauerder und der Streichung der (West-)Berlin-Förderungen und dem Abbau der subventionierten Produktion in der „Frontstadt“ sind nun viele Verlierer der Wende darunter. Dann zerbrechen die Ehen und traditionelle Geschlechterrollen gehen genauso verloren wie der sicher gewähnte Job. Wo das soziale Band reißt, werden Siedlungen schnell Brennpunkte: Großsiedlungen wie das Märkische Viertel oder die Hochhäuser aus der Bauhaus-Zeit an der Heerstraße. Reinickendorf ist von den Rändern aus gefährdet – und mit ihm die Familien der unteren Mittelschicht.

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