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Hier fing alles an: Blick in den 1960er Jahren von der Empore des Henry-Ford-Baus auf das 1948 übernommene erste Hauptgebäude der Freien Universität in der Boltzmannstraße 3.

© Reinhard Friedrich

100 Jahre Boltzmannstraße 3: Ein Haus wie ein Taubenschlag

Die Entwicklung des ersten Hauptgebäudes der Freien Universität steht exemplarisch für die Entfaltung der Hochschule in Dahlem. Das Haus Boltzmannstraße 3 wird am 29. April 100 Jahre alt.

Wir wären Matsch gewesen, wären wir da runtergefallen“, sagt Stanislaw Karol Kubicki. Der fast 90-Jährige kichert verschmitzt, wenn er sich ins Jahr 1948 zurückversetzt und in Gedanken wieder das Fenster im Raum des Instituts für Altertumskunde im dritten Stock der Boltzmannstraße 3 öffnet. Vor seinem inneren Auge balanciert er noch einmal auf dem Sims in fast 13 Metern Höhe um das Gebäude herum und erschreckt mit Freunden von außen den Professor für Kunstgeschichte und geschäftsführenden Rektor der Freien Universität Berlin, Edwin Redslob.

Die Hausnummern 3 und 4 in der Boltzmannstraße sind für Kubicki ebenso wie für die Freie Universität keine x-beliebigen Adressen: Hier beginnt im Jahr 1948 das Universitätsleben der neugegründeten Hochschule; Karol Kubicki – später Professor für Klinische Neurophysiologie – setzt hier sein im Ostteil Berlins unterbrochenes Medizinstudium fort; wie viele andere packt er mit großem Idealismus beim Aufbau der Hochschule mit an.

Erstnutzerin der Boltzmannstraße 3 ist die Universität indes nicht: Als Kubicki im Juli 1926 geboren wird, liegt die offizielle Eröffnung des Instituts, das hier ursprünglich seinen Sitz hatte, gerade zehn Jahre zurück: Es ist das Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Biologie. Es erstreckt sich damals nicht nur auf die 2647,5 Quadratmeter vom Keller über drei Stockwerke bis zum Dach: Auf 3,7 Hektar hinter dem Haus breiten sich Versuchsfelder und Nebengebäude für die Tierzucht aus. Zur Vererbung und Fortpflanzung von Pflanzen und Tieren forschen können der Erste Direktor Carl Correns sowie die dort tätigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zudem in Gewächshäusern, Aquarien und an Bienenstöcken. Gleich drei Wissenschaftler erhalten während oder nach ihrer Tätigkeit in dem KWI für Biologie Nobelpreise.

Der Zweite Weltkrieg hatte auf das Kaiser-Wilhelm-Institut drastische Auswirkungen

Als Carl Correns 1933 stirbt – zwei Wochen nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler – übernimmt Richard Goldschmidt, einer der fünf Abteilungsleiter, kommissarisch die Stelle des Ersten Direktors. Doch nur für kurze Zeit: Goldschmidt, jüdischer Herkunft, übergibt das Amt zehn Wochen später an einen Kollegen – nach offizieller Begründung „wegen Behinderung“. Drei Jahre später wird er an die Universität von Kalifornien in Berkeley berufen und verlässt Deutschland für immer. Der Zweite Weltkrieg hat auf das KWI zunächst harmlose, dann drastische Auswirkungen: Die Biologen nehmen Teile eines anderen KWI auf – und in Baracken gegenüber der Boltzmannstraße 3 werden chemische Kampfstoffe erforscht. Wegen der Bombenangriffe werden 1943 große Teile des KWI nach Tübingen verlagert.

Über die Nutzung der Boltzmannstraße 3 in den Jahren danach ist wenig bekannt. 1948 wird das Gebäude gemeinsam mit dem Haus Nr. 4 für die Wissenschaft wachgeküsst: Als drei Studenten im April 1948 an der damaligen Universität Unter den Linden – der früheren Friedrich-Wilhelms-Universität – die Studiererlaubnis entzogen wird, fordern rund 2000 Demonstranten „die Gründung einer freien Universität in den Westsektoren der Stadt“. Dank Unterstützung durch US-Alliierte, Politiker und die Bevölkerung West-Berlins wird nur drei Monate später in der Boltzmannstraße 4 das „Sekretariat der Freien Universität Berlin“ eröffnet. Karol Kubicki bekommt dort ein Büro als Zulassungsreferent und erhält – nach einem Münzwurf mit seinem Freund Helmut Coper – die Matrikelnummer 1. Wenige Tage später wird der Universität auch die Boltzmannstraße 3 zur Nutzung übergeben.

Improvisiertes Immatrikulationsbüro in der Boltzmannstraße.
Improvisiertes Immatrikulationsbüro in der Boltzmannstraße.

© Landesarchiv Berlin/Fotosammlung Spiller

Es ist den beengten Verhältnissen geschuldet, dass Medizinstudent Kubicki 1948 – hingerissen auch von Vorlesungen der Archäologie – auf der Brüstung im dritten Stock in nur wenigen Sekunden als Professorenschreck von einem Institut ins andere gelangen kann: Das Gebäude beherbergt im ersten Wintersemester ganze 13 Institute der Philosophischen Fakultät. Das Haus ächzt zudem unter Teilen des Immatrikulationsbüros, einem Schreibwarenladen, einer Schuhmacherwerkstatt, einer Kleiderausgabestelle und mehreren Dienstwohnungen. In wenigen Monaten wächst die Zahl der Fakultäten auf sechs, doch das Haus kann keine weitere aufnehmen.

Es war so kalt, dass man in Wintermänteln im Hörsaal saß

Mit dem raschen Ausbau der Hochschule zur Voll-Universität wachsen auch die Probleme, die Gründungsrektor Friedrich Meinecke und sein geschäftsführender Rektor und späterer Nachfolger Edwin Redslob sowie Kurator Fritz von Bergmann inmitten der Berlin-Blockade lösen müssen. „In unserem ersten Wintersemester war es so kalt, dass wir in Mänteln in den Vorlesungen saßen“, schreibt der 2013 verstorbene Helmut Coper, Student mit Matrikelnummer 2, erster AStA-Vorsitzender und späterer Professor für Neuropsychopharmakologie, in seinen Erinnerungen. Immer wieder müssen Veranstaltungen wegen Stromausfällen bei Kerzenlicht fortgesetzt werden. Die Nähe zu dem von der US-Armee besetzten und als Offiziersclub genutzten Harnack-Hauses – das ehemalige Gästehaus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft – beschert zumindest der Boltzmannstraße vergleichsweise große Stromkontingente.

Gipfeltreffen USA-Berlin: Am 12. Oktober 1949, kurz nach seinem Amtsantritt als Hoher Kommissar der amerikanischen Besatzungszone und damit ranghöchster Vertreter der USA in Deutschland, besucht John Jay McCloy (Bild oben, vorne 2. v. l.) die Freie Universität. Links neben ihm Oberbürgermeister Ernst Reuter.
Gipfeltreffen USA-Berlin: Am 12. Oktober 1949, kurz nach seinem Amtsantritt als Hoher Kommissar der amerikanischen Besatzungszone und damit ranghöchster Vertreter der USA in Deutschland, besucht John Jay McCloy (Bild oben, vorne 2. v. l.) die Freie Universität. Links neben ihm Oberbürgermeister Ernst Reuter.

© SLUB/Deutsche Fotothek/Fritz Eschen

Die Zahl der Studierenden schnellt von 2140 im ersten Wintersemester auf rund 5000 im Jahr 1949 hoch und wächst bis 1963 auf 13 000; die Raumnot wird zunehmend unerträglich. Ohne weitere Räume und Gebäude seien Vorlesungen und Seminare nicht planbar, halten Wissenschaftler der Leitung der jungen Universität vor, wie viele Dokumente im Universitätsarchiv bezeugen.

Edwin Redslob sucht mit einer Liste von Wunsch-Immobilien Hilfe beim Bürgermeister von Zehlendorf, Werner Wittgenstein, und gibt zu bedenken, dass dies nur der Anfang sein könne: „Unser Raumhunger ist damit leider noch nicht gestillt.“ Redslob wendet sich auch an die US-Alliierten und den Oberbürgermeister West-Berlins, Ernst Reuter. Hin und wieder lassen die Amerikaner die angebotene Vermietung oder den Verkauf beschlagnahmter Privatvillen zwar nicht zu, doch die Erfolge der Universität bei der Raumsuche überwiegen: So beschließt im April 1949 der Kommandant des US-amerikanischen Sektors von Berlin, General Frank L. Howley, alle wissenschaftlichen Institutionen in dem Sektor zu übergeben.

Aus allen Teilen der Stadt wurden Bücher in die Boltzmannstraße geschafft

Ein weiterer dicker Fisch geht der Hochschule Anfang 1951 ins Netz: Sie erhält alle Grundstücke zwischen Thielallee und Ihnestraße auf der nördlichen Seite der Garystraße. Hier entstehen unter anderem das Hörsaalgebäude Henry- Ford-Bau und die Universitätsbibliothek.

Aus allen Teilen der Stadt werden Bücher in die Boltzmannstraße 3 geschafft – diese Spenden verschärfen die Raumprobleme. Die Juristische Fakultät hebt 1949 in der Boltzmannstraße 1 einen Schatz. Dort lagern die erhaltenen Bestände des 1924 gegründeten KWI für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. Die 5000 Bände werden der Freien Universität zugesprochen. Der heutige Leiter des Studien- und Prüfungsbüros des Fachbereichs Rechtswissenschaft, der promovierte Jurist Andreas Fijal, sieht den Fachbereich in seiner internationalen Ausrichtung noch heute geprägt durch das früher in Dahlem angesiedelte Institut. Fijal führt darauf „die starke völkerrechtliche Aufstellung des Fachbereichs“ zurück. Den Studierenden stehe „die Weltkarte des Rechts“ offen.

Vor allem die ersten Jahre sind geprägt von einem großen Zusammenhalt und einer Beziehung der Studierenden und Professoren auf Augenhöhe. Ganz in diesem Gründergeist fällt 1961 die Antwort der Verwaltung an einen Philosophie-Professor aus, der Studenten vor der Boltzmannstraße 3 das Parken verbieten lassen will: Zugunsten von Einzelpersonen seien Parkplätze auf öffentlichen Straßen noch nie freigehalten worden, heißt es.

1951 vor Eindringlingen geschützt - 1968 von Studierenden besetzt

Wie innig die Beziehung der Gründungsstudenten zu ihrer Hochschule ist, zeigt sich etwa im August 1951: Als anlässlich der Weltfestspiele der Jugend in Ost-Berlin kommunistische Studenten auch am Dahlemer Thielplatz agitieren, befürchten Studenten der Freien Universität eine Besetzung des nur 400 Meter entfernten Hauptgebäudes – und bewachen es die ganze Nacht. 1968 sieht es anders aus, wie der Mitarbeiter an der Hochschuldokumentation Jochen Staadt berichtet: Schauplatz der Studentenunruhen wird auch die Boltzmannstraße 3. Aus Protest gegen die in Bonn geplante Verabschiedung der Notstandsgesetze wird am 27. Mai das Germanische Seminar besetzt. Anfang Juni listet die Bauabteilung minutiös Schäden in Höhe von 19 000 D-Mark auf – und Rektor Ewald Harndt denkt in einem vertraulichen Papier darüber nach, ob bei künftigen Besetzungen in den Häusern nicht einfach die Stromversorgung gekappt werden könne.

Fast 60 Jahre lang gleicht die Boltzmannstraße 3 einem Taubenschlag. Erst seit 2007 nutzt der Fachbereich Rechtswissenschaft das Gebäude allein. Das Treppenhaus wurde in jüngerer Zeit restauriert, die Räume sind modern ausgestattet. Jurist Andreas Fijal hat sein Büro im Erdgeschoss der Boltzmannstraße 3, ganz in der Nähe der Räume, in denen er sich 1976 immatrikulierte. Sein Lieblingsort in der Boltzmannstraße 3 ist das Dienstzimmer des Völkerrechtlers Philip Kunig: Wegen vieler Gespräche habe ihn der Raum oft beflügelt, sagt er. Fijal und Kunig können sich in dem Büro ganz sicher sein, dass der Student mit Matrikelnummer 1, Karol Kubicki, nicht wie 1948 „seine eigenen Wege“ geht: Vor dem Fenster verläuft keine Balustrade.

Eine ausführliche Version dieses Artikels finden Sie hier.

Ein Quiz über das Gebäude und die Anfangsjahre der Universität mit der Chance, Büchergutscheine zu gewinnen, lädt hier zum Rätseln ein.

Wer dem Fotoaufruf aus der Februar-Beilage folgte und auf alten Bildern Verwandte oder Freunde entdeckte, die an der Freien Universität studierten, erfahren Sie hier.

FESTAKT FÜR DEN GRÜNDUNGSBAU

Am 29. April lädt der Fachbereich Rechtswissenschaft aus Anlass des Jubiläums des Gebäudes in der Boltzmannstraße 3 zu einem Festakt um 11 Uhr sowie zu einer Fotoausstellung. Um 12.30 Uhr bietet die Max-Planck-Gesellschaft eine wissenschaftshistorische Führung. Anmeldung bis 20. April unter der E-Mail: einladung@rewiss.fu-berlin.de

Carsten Wette

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