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Historischer Schauplatz ohne Originale. Am ehemaligen Checkpoint Charlie steht heute eine Nachbildung der ersten Grenzbaracke; die letzte Kontrollbaracke, die beim Außenministertreffen im Juni 1990 symbolisch abgebaut wurde, wird im Alliierten Museum Berlin aufbewahrt.

© Hanno Hochmuth

60 Jahre Mauerbau: Mauern einreißen

Wie wird an den Mauerbau vor 60 Jahren und an die deutsche Teilung erinnert?

Für die Uneinigkeit darüber, wie an die friedliche Revolution in der DDR und an die Deutsche Einheit erinnert werden soll, ist die Berliner „Einheitswippe“ ein gutes Bild: Das begehbare Denkmal stand nach Kosten-, Standort- und Gestaltungsdebatten 13 Jahre lang auf der Kippe. „Es gibt keinen gesamtgesellschaftlichen Konsens über die historische Bewertung der DDR“, sagt Hanno Hochmuth. „Die Meinungen pendeln zwischen der Betonung der Diktatur und verharmlosender Nostalgie.“ Der promovierte Historiker, der im Masterstudiengang „Public History“ am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität lehrt, ist am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) tätig.

Studierende waren Fluchthelfer

Der 60. Jahrestag des Mauerbaus am 13. August ist Anlass für zahlreiche Recherche- und Publikationsprojekte an der Freien Universität – die Geschichte der im Dezember 1948 gegründeten Hochschule ist eng verknüpft mit der Nachkriegszeit und der Teilung Deutschlands. „Auch Dutzende von Studierenden haben sich in den ersten Jahren nach dem Bau der Mauer an Fluchthilfeaktionen beteiligt“, sagt Jochen Staadt. Der promovierte Germanist und Politikwissenschaftler untersucht am 1992 an der Freien Universität Berlin gegründeten „Forschungsverbund SED-Staat“ die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte und die Nachwirkungen der SED-Diktatur seit der Wiedervereinigung.

Flucht unter dem Lenkrad

Unter dem Lenkrad oder im Kofferraum schmuggelten die Studierenden aus dem Südwesten Berlins ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen aus dem sowjetischen Sektor über die Grenze. Sie gruben Tunnel oder stellten ihre Pässe zur Verfügung, damit die Fotos ausgetauscht werden konnten. Bis Januar 1962 verhalfen Studierende der Freien Universität mehr als 800 Menschen zur Flucht. Andere Aktionen endeten mit Gefängnisstrafen für die Helfenden und Flüchtenden – oder tödlich: Nach den Forschungen des ZZF und der Gedenkstätte Berliner Mauer kamen zwischen 1961 und 1989 an der Mauer 140 Personen ums Leben.

Im Gegensatz zu den Berliner Maueropfern seien die Todesfälle bei Fluchtversuchen über die Grenzen von Ostblockstaaten noch kaum erforscht, sagt Jochen Staadt. Im Rahmen des vom Bundesforschungsministerium geförderten Konsortiums „Eiserner Vorhang“, an dem auch die Universitäten Greifswald und Potsdam beteiligt sind, untersucht das Forschungsteam an der Freien Universität in einem Teilprojekt die Todesfälle von Deutschen an den Grenzen der damaligen Ostblockstaaten. Wenig bekannt ist auch über Fluchtversuche über die Ostsee – deren Geschichte wird derzeit an der Universität Greifswald aufgearbeitet. Die Universität Potsdam verantwortet als drittes Teilprojekt die Recherche zum DDR-Justizministerium und dessen Rechtsbeugung gegen Ausreisewillige und gefasste Flüchtlinge. Insgesamt war seit 1961 trotz Mauer und verminter innerdeutscher Grenze rund 40 000 Menschen die Flucht aus der DDR gelungen.

Neue Formen für die Geschichtsdarstellung

Auch Studierende des Masterstudiengangs „Public History“, die überwiegend nach der Wiedervereinigung geboren wurden, stellen Fragen an die deutsch-deutsche Vergangenheit. In dem Kooperationsstudiengang der Freien Universität und des ZZF, der für die Arbeit in Gedenkstätten, politischer Bildung und Museen ausbildet, geht es um die Suche nach neuen Formen für die öffentliche Darstellung von Geschichte und die Erinnerung an sie. Man führe dort eine „Geschichtsdiskussion, die viel stärker über den Tellerrand hinausgeht als noch zur Jahrtausendwende“, sagt Hanno Hochmuth: Bisher werde der Kalte Krieg meist aus einer eurozentrischen Perspektive erzählt: Ost versus West, Sowjets gegen Amerikaner. „Doch der globale Konflikt wäre in Kuba beinahe eskaliert und wurde in Vietnam, Korea und Afrika extrem blutig ausgetragen.“

Der Historiker plant mit den Studierenden eine virtuelle Ausstellung anlässlich des 60. Jahrestages der Panzerkonfrontation am Checkpoint Charlie am 27. Oktober 1961. Im Fokus stehen die Alltagsgeschichte des geteilten Berlins und dessen weltweite Wahrnehmung. Erzählt wird die Geschichte anhand von Objekten. So erhielten amerikanische Soldaten, die über den Checkpoint Charlie in den Ostsektor fuhren, vorab stets einen Reiseführer der besonderen Art: eine Informationsmappe mit Straßenkarten Ost-Berlins, einem Verhaltenskodex und russischen Übersetzungen wie „Ich bestehe auf meinem Recht, ohne weiteren Aufenthalt weiterzufahren“, die im Notfall, zum Beispiel einer Autopanne, vorgezeigt werden sollten.

Die Mappe mit Stadtplan und Verhaltenstipps sollte US-Soldaten im Notfall helfen. 
Die Mappe mit Stadtplan und Verhaltenstipps sollte US-Soldaten im Notfall helfen. 

© Thomas Köhler

Ziel der Ausstellung ist es, dem Bild des bekanntesten innerstädtischen Grenzübergangs neue Facetten hinzuzufügen – jenseits des wirkungsstarken Bildmaterials von Panzern und schwerbewaffneten Soldaten. Gezeigt wird die digitale Schau auf der Webseite „Chronik der Mauer“, einem Gemeinschaftsprojekt des ZZF, der Bundeszentrale für politische Bildung, des Deutschlandradios und der Stiftung Berliner Mauer. Präsentiert wird sie auf der Jahrestagung der International Federation for Public History, die im August 2022 an der Freien Universität stattfinden wird.

Paar hat Objekte seit den 80ern gesammelt

Sophie Lutz hat mit drei Kommilitoninnen und Kommilitonen und einem studentischen Filmteam der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe ein Public-History-Projekt in Perleberg umgesetzt. Das dort lebende Pfarrerehepaar Gisela und Hans-Peter Freimark hatte in den 1980er Jahren begonnen, Objekte zu sammeln, die das politische System, den Alltag der DDR und das oppositionelle Engagement des Ehepaars am Beispiel ihrer Familiengeschichte festhalten sollten. „Wir haben überlegt, wie die persönliche, sehr anekdotische Museumsführung auf lange Sicht konserviert werden kann“, sagt Thomas Köhler. „In jedem Raum haben wir uns für das ausdrucksstärkste Objekt und seine Hintergrundinformationen entschieden.“ So zeigt Gisela Freimark etwa ein Kleid, das ihre Mutter ihr für den Abiturball geschneidert hat.

Public-History-Student Thomas Köhler beschäftigt sich mit Zeitzeugnissen, hier steht er im nachgebauten Konsum im DDR-Dokumentationszentrum Perleberg.
Public-History-Student Thomas Köhler beschäftigt sich mit Zeitzeugnissen, hier steht er im nachgebauten Konsum im DDR-Dokumentationszentrum Perleberg.

© Jennifer Gaschler

„Es ist wichtig, dass wir verstehen, wie die Strukturen, in denen wir heute leben, entstanden sind“, sagt Josephine Eckert, die ebenfalls an dem Filmprojekt beteiligt ist; angeregt hatte es ihre Dozentin Irmgard Zündorf vom ZZF. Da in den Ländern der alten Bundesrepublik sehr wenig von der DDR-Alltagsgeschichte präsent und bekannt war, sei die private Sammlung auch für die Studierenden persönlich ein eindrucksvoller Einblick in die Vergangenheit. Viele Begriffe aus der Alltagssprache der DDR, einem „Land der Abkürzungen“, seien ihnen als Nachgeborenen beispielsweise nicht geläufig gewesen, sagt Josephine Eckert: „LPG“ (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft), „KB“ (Kulturbund) oder „rübermachen“ (umgangssprachlich für „flüchten“). Um die Begriffe zu kontextualisieren, entwarfen sie eine Website; dort finden sich auch Video-Interviews mit den Freimarks, die auch bei einem Tablet-Rundgang im Dokumentationszentrum in Perleberg selbst abrufbar sind.

Aus welcher Perspektive wird Geschichte erzählt?

Wessen Geschichte wird in DDR-Museen und in Gedenkstätten erzählt und aus welcher Perspektive? Damit beschäftigt sich Lotte Thaa. Die Historikerin promoviert im BMBF-Forschungsverbund „Das mediale Erbe der DDR. Akteure, Aneignung, Tradierung“, der am Arbeitsbereich Didaktik des Friedrich-Meinecke-Instituts der Freien Universität angesiedelt ist. Der Verbund ist eine Kooperation der Freien Universität, des ZZF und der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität. Museumspädagogisch habe man sich lange Zeit meist für ein „Mangelnarrativ“ entschieden, das aus westdeutscher Perspektive in einem Schwarz-Weiß- Vergleich mit der Bundesrepublik erzählte, was in der DDR nicht oder kaum vorhanden war. Auch die Unterrepräsentation der bereits 1990 ausgewiesenen ausländischen Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter in den Dauerausstellungen sei ein Beispiel für Einseitigkeit, sagt Lotte Thaa. In ihrer Analyse der Sammlungsgeschichte und Ausstellungspraxis von Museen zur deutschen Teilung fand die Historikerin außerdem nur vereinzelt queere Perspektiven. Mit ihrer Schau „Rosarot in Ost-Berlin. Erkämpfte Räume im Umbruch“ im Schwulen Museum in Berlin-Schöneberg will sie auch diese Geschichten sichtbar machen.

Der Ausstellungsbesuch regt zum Erzählen an

„Ausstellungen mit alltagsgeschichtlichem Schwerpunkt wird oft vorgeworfen, den DDR-Herrschaftsapparat zu verharmlosen“, sagt Julian Genten. Der Doktorand fragt in seiner Arbeit, wie sich heute Besucherinnen und Besucher mit ihren unterschiedlichen sozialen und biografischen Hintergründen Geschichte in DDR-Museen aneignen. Aus den Interviews, die er am Ende des Museumsbesuchs mit ihnen führt, sei eine klare Tendenz erkennbar: „Meine Fragen beziehen sich fast alle konkret auf die Ausstellung – die Antworten dagegen so gut wie nie.“ Die Interpretation des Gesehenen hänge stark von den Erfahrungen und Erwartungen der Gäste ab; der Ausstellungsbesuch rege sie oft dazu an, Anekdoten zu erzählen und individuelle politische Einschätzungen abzugeben. „Die Erinnerungslandschaft des Nationalsozialismus ist viel homogener und stärker negativ besetzt.“ Vor allem nach 1989 geborene Deutsche setzten sich dagegen, wenn sie museale Orte mit Bezug zur DDR besuchen, stark mit der eigenen Identität und persönlichen Familiengeschichte auseinander. Ein Interesse, an das angeknüpft werden kann.

Jennifer Gaschler

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