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Erinnerungen an Eberhard Lämmert: Wissenschaftler und Lehrer, Mentor und Mensch

Eberhard Lämmert, Germanist und ehemaliger Präsident der Freien Universität Berlin, starb am 3. Mai 2015 im Alter von 90 Jahren. Weggefährten und Schüler erinnern sich an eine herausragende Persönlichkeit.

Eberhard Lämmert prägte die Freie Universität Berlin in vielfacher Weise: Als junger Hochschullehrer, der 1962 einem Ruf an die Freie Universität folgte, die Internationalisierung der Germanistik forderte und auch selber lebte, als Präsident der Universität, an die er nach einer Station in Heidelberg 1976 zurückkehrte, und als Leiter des Peter-Szondi-Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft von 1983 bis zu seiner Emeritierung 1992.

In den 1990er Jahren setzte er sich für den Auf- und Umbau bedeutender Forschungseinrichtungen ein: 1996 war er Gründungsdirektor des Zentrums für Literaturforschung, dessen Direktor er bis 1999 blieb, und von 1998 bis 2004 Ko-Direktor am Forschungszentrum für Europäische Aufklärung Potsdam. Von 1988 bis 2002 wirkte Lämmert als Präsident der Deutschen Schillergesellschaft und des Deutschen Literaturarchivs Marbach, er war Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und im Vorstand des Deutschen Akademischen Austauschdienstes.

Seine 1955 veröffentlichte Dissertation „Bauformen des Erzählens“, in deren Titel noch das Studium der Mineralogie und Geologie nachklingt, das er nach Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst begonnen hatte, gilt bis heute als Standardwerk. Mit Eberhard Lämmert, sagt Georg Witte, Geschäftsführender Direktor des Peter-Szondi-Instituts, verliere die Freie Universität „eine herausragende Persönlichkeit des intellektuellen Lebens, einen unvergesslichen Mentor und Lehrer“.

PETER-ANDRÉ ALT

Ich begegnete Eberhard Lämmert zum ersten Mal als Student im Wintersemester 1981/82. Er hielt eine Vorlesung zum „Europäischen Roman des 19. Jahrhunderts“. Ich war neugierig: Von Lämmert kannte ich die Bauformen des Erzählens und die Studie über den „Dichterfürsten“. Dass er damals Präsident meiner Universität war, interessierte mich wenig. Das Amt blieb für den Normalstudenten kaum greifbar, anders als die Wirksamkeit des Philologen Lämmert, dessen Denkstil mich faszinierte.

Eberhard Lämmert blieb für meine Reise durch den modernen Roman fortan ein Anreger und Cicerone – ein Philologe, der das Wunder der verstehenden Lektüre auf sanft geschwungenen, dem schönen Gegenstand angemessenen und doch begriffsfesten Annäherungswegen anzubahnen wusste. Und mein Glück war es, dass ich ihm in den folgenden Jahren wiederbegegnen durfte, in wechselnden Rollen hüben wie drüben, in Marbach und Princeton, vor allem aber in Dahlem an der Freien Universität, die uns beiden am Herzen liegt! *

Der Literaturwissenschaftler Peter-André Alt ist Präsident der Freien Universität Berlin, wo er von 1979 bis 1984 studierte, 1984 promovierte und sich 1993 habilitierte. Sein ausführlicher Nachruf ist im Tagesspiegel erschienen und im Online-Magazin campus.leben der Freien Universität.

KLAUS SCHERPE

„Ich habe zu keiner Zeit das Gefühl gehabt, nicht Professor von Studenten zu sein“, sagte Eberhard Lämmert im Rückblick auf die stürmische Zeit seiner Präsidentschaft an der Freien Universität in den 1970er Jahren. Und noch 2003 gab er dem Beitrag für eine Veranstaltung des AStA die Überschrift „Marcuse, Studentenbewegung, FU-Identität“.

Viele hatten ihm, dem wohlbestallten Heidelberger Ordinarius, abgeraten, das Berliner Amt anzunehmen. Als einer der wenigen seines Faches hatte Lämmert in seiner früheren Berliner Zeit damit begonnen, die Geschichte der in der Nazizeit als „deutsche Wissenschaft“ propagandistisch aufgewerteten Germanistik kritisch aufzuarbeiten. Jetzt ergab sich die Gelegenheit – wo anders als an der Berliner Freien Universität, der in ihren Grundfesten erschütterten Universität – dieses Wissen und seine Erfahrungen als Hochschullehrer einzubringen für eine Reform der deutschen Universität: über die Grenzmarkierungen der Fachdisziplinen hinaus, weltoffen, jenseits der nationalen Beschränkungen.

Reformen waren durchzusetzen gegen den Beharrungswillen der Institutionen und ihrer Repräsentanten. Die Anfeindungen nahm er in Kauf, die Störmanöver radikaler Studentengruppen und mehr noch die Angriffe einer Professorenschaft, die, in Not geraten, glaubte, sich in einer Gemeinschaft zusammenschließen zu müssen.

Ja, es stimmt, Eberhard Lämmert hat dank seiner persönlichen Integrität und Souveränität der Freien Universität zu neuem Ansehen verholfen. Aber es stimmt auch, dass diese Universität, die in den Konflikten des Kalten Krieges als eine „freie“ Universität gegründet wurde, ohne die konfliktreiche Zeit der Achtundsechziger-Studentenbewegung sich nicht zu dem zusammengefunden hätte, was sie heute ist. Dafür steht nicht zuletzt das Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, das Eberhard Lämmert, der als Präsident stets Wissenschaftler blieb, aufgebaut hat. Mehr „institutionelle Phantasie“, mehr „Selbstbeteiligung“ an den öffentlichen Angelegenheiten, das war stets sein Wunsch, eine Ermutigung, derer wir, wie er gerne sagte, „eingedenk“ sein sollten.

Klaus Scherpe, emeritierter Professor der Humboldt-Universität zu Berlin, war von 1968 bis 1972 wissenschaftlicher Assistent von Eberhard Lämmert in Berlin und Heidelberg. 1973 wurde er als Professor für Neuere deutsche Literatur an die Freie Universität berufen, wo er bis 1993 lehrte.

SIGRID WEIGEL

In etlichen Szenen hatte ich Eberhard Lämmert in der Arena der Wissenschaftspolitik als klugen, weitsichtigen Akteur erleben dürfen, immer offen für neue Ideen: Anfang der 1990er Jahre als Kuratoriums-Vorsitzender des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und etliche Jahre später bei den gemeinsamen Gängen zum Brandenburger Ministerium, wo es uns gelang, die Stutzung des Einstein-Forums auf eine Zwerginstitution abzuwenden.

Insofern hatte ich seine souveräne Autorität wie auch seine menschliche und intellektuelle Großzügigkeit schon erfahren, als er mir die Leitung des von ihm initiierten ZfL überantwortete. Dennoch war es eine überraschende und unvergessliche Erfahrung, mit welchem Einvernehmen – über den Generationensprung hinweg – der Wechsel möglich war: Lange vor meinem offiziellen „Amtsantritt“ bezog er mich ein, um den DFG-Antrag mit dem Forschungsprogramm der nächsten Jahre zusammen auszuarbeiten und gab mir darüber hinaus zu verstehen, dass er die zukunftsrelevanten inhaltlichen Akzente mir überlasse. Am Tag, als ich das Amt von ihm übernahm, war er in das Büro eines Projektleiters gewechselt. In dieser Rolle nahm er noch viele Jahre als Engagierter an vielen Diskussionen des ZfL teil, später als Beobachter, der mit seiner Freude darüber, dass seine Gründung die Testzeit überlebte, ebenso großzügig war wie mit seiner Anerkennung.

Professorin Sigrid Weigel ist seit 1999 Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin (ZfL) und Vorstandsvorsitzende der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin.

JÜRGEN KOCKA

Was ich am meisten bewundere: Eberhard Lämmert als eine einzigartige Gestalt, die wissenschaftliche Könnerschaft mit wirkungsvollem politischem Engagement und gebildeter Eleganz der Lebensführung verbindet. Dass die deutsche Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg so viel besser verlief als nach dem Ersten, lag an mächtigen Konstellationen, aber auch an denkenden und handelnden Zeitgenossen, an Persönlichkeiten wie Eberhard Lämmert. *

Jürgen Kocka lehrte von 1988 bis 2009 am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, von 2001 bis 2007 war er Präsident des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

HARTMUT EGGERT

Aus seiner frühzeitigen Auseinandersetzung mit der Verstrickung der Germanistik in die deutschen nationalistischen Bewegungen – sie gipfelten in der NS-Diktatur – sah Eberhard Lämmert hellsichtig voraus, dass aus der Reform eines Germanistikstudium auch ein reformierter Deutschunterricht hervorgehen müsse. Er, der nach eigenem Bekunden nie „Lehrer an einer Schule“ hatte werden wollen – die Berufsperspektive von 80 Prozent der Germanistik-Studenten seiner Generation – hat sich gleichwohl darauf eingelassen, die Grundlagen eines Literaturunterrichts zu bedenken, der sich aus dem prägenden Verständnis einer Genieästhetik löst und deren Texte nicht mehr nur als „Lebenshilfe“ und zum Zwecke moralischer Indoktrination pädagogisch verbraucht würden.

Über fünf Jahrzehnte verband uns das Nachdenken darüber, wie Literatur zu vermitteln sei in einer sich völlig verändernden Medienlandschaft, dabei zunehmend auch im Austausch verschiedener Kulturen. Meine frühen Lehrerfahrungen in den USA, die späteren als FU-Germanist im damals ganz fernen China und in europäischen Ländern gehen auf Impulse Eberhard Lämmerts zurück. Kürzlich berichtete ich ihm noch von meiner geplanten Rede vor polnischen Studenten zum 70. Jahrestag des Kriegsendes. Diese Perspektive hatte ihm, der uns gelehrt hat, kritisch mit der deutschen Geschichte umzugehen und auch fachlich daraus Konsequenzen zu ziehen, sehr zugesagt.Hartmut Eggert war von 1969 bis 1975 wissenschaftlicher Mitarbeiter an dem „Romantheorie“-Projekt bei Eberhard Lämmert. Von 1981 bis 2002 war er Professor für „Literarische Sozialisation“ am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität.

Eberhard Lämmert unterhält sich mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog.
Eberhard Lämmert unterhält sich mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog.

© dpa

IRMELA VON DER LÜHE

Die junge Studentin der Geschichte, vorzugsweise der mittelalterlichen, der die Literatur ein allenfalls „schöner Überfluss“ und die Wissenschaft ein von ihr bürokratisch verlangtes „Zweitfach“ mit unerträglichem Hang zur einfühlsamen Spekulation gewesen war – in den bald beginnenden politischen Zeiten überdies sträflich „untheoretisch“ und, schlimmer noch, „unpolitisch“ –, sie begegnete im Sommersemester 1969 an der FU Berlin in Vorlesung, Haupt- und Oberseminar einem Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte, der all diese zuvor in Tübingen und Münster kultivierten Vorurteile mit wenigen Sätzen hinwegzufegen vermochte.

Es begann im siebten Fachsemester das Studium einer Literaturwissenschaft, die Texte und Theorien, geschichtsphilosophische und sozialgeschichtliche Kontexte lange vor jeglichem „turn“ zu exponieren vermochte; und dies immer aus einer gleichermaßen geschichts- wie gegenwartsorientierten Perspektive. *

Irmela von der Lühe kehrte immer wieder an die Freie Universität zurück, an der sie von 1969 bis 1971 studiert hatte. Von 2004 bis zu ihrer Emeritierung 2012 war sie Professorin für Germanistik.

LOTHAR MÜLLER

Der Kern der Philologie ist Kritik. Bei Eberhard Lämmert war sie nicht nur Textkritik und unterscheidende Lektüre in schriftlicher Form, sondern ebenso sehr leibhaftig-dialogische, im Gespräch entwickelte Kritik. Dass hier der Ton eine entscheidende Rolle spielt, liegt auf der Hand, besonders, wenn bei der allmählichen Verfertigung der Kritik im Reden der Kritisierte anwesend ist.

Eines der Bilder, in die Eberhard Lämmert in Prüfungsverfahren oder nach Vorträgen kritische Anmerkungen zu fassen wusste, ist mir in besonderer Erinnerung geblieben. Sie haben, sagte er zu einem Vortragenden, dessen Argumentationsgang zusammenfassend, eine lange Reihe sehr gut ausgestatteter Waggons zu einem Zug von beeindruckender Länge zusammengekoppelt. Und es ist unverkennbar, dass Ihre Lokomotive beträchtlich Zugkraft besitzt. Jetzt müssen Sie nur noch losfahren.

Lothar Müller ist Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. Von 1989 bis 1994 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am AvL-Institut und arbeitete eng mit Eberhard Lämmert zusammen, unter anderem bei einem gemeinsamen Seminar.

CLAUDIA SCHMÖLDERS

Eberhard Lämmert begegnete mir erst einmal eher als guter Geist denn als Lehrer. Um 1970 „erbte“ er einige Doktoranden, deren Lehrer Berlin verließen, weil sie unglücklich mit der neuen Verfassung der Universität waren. Deswegen musste ich das Rigorosum in Heidelberg absolvieren. Gelesen habe ich damals die „Bauformen des Erzählens“, Lämmerts Hauptwerk von 1955. Als Zeitzeugin der aggressiv bestürmten Seminare um 1968 sprach mir das Schlusskapitel aus der Seele. Lämmert bestand darauf, dass Dichtung sich vor allem „im ,Gespräch’ des Dichters mit dem Zuhörer bzw. Leser vollzieht“. Was er schon damals beschwor, hatten wir 1968 erlebt: den Niedergang des Gesprächs als Kulturtechnik. 1979 erschien dazu meine Anthologie über „Die Kunst des Gesprächs“. Er hat sich wirklich darüber gefreut. 2010 schenkte er mir sein Buch „Respekt vor den Poeten“ – und als Alumna seines Wirkens empfinde ich heute herzlichen und dankbaren Respekt vor diesem Exegeten.

Claudia Schmölders studierte von 1967 bis 1970 an der Freien Universität und wurde 1973 bei Eberhard Lämmert promoviert. Sie arbeitet als Kulturwissenschaftlerin in Berlin.

OLIVER LUBRICH

Eberhard Lämmert war Ordinarius, Institutsleiter und Universitätspräsident. Ich habe ihn als Student erlebt, als wissenschaftlicher Mitarbeiter und schließlich als junger Professor – ohne dass sich an seinem Verhalten zu mir etwas geändert hätte. Unabhängig von Amt, Alter und Ansehen begegnete er einem stets mit seiner großzügigen Freundlichkeit, liberalen Offenheit und intellektuellen Eleganz. Ich habe seine Vorlesung über den europäischen Roman gehört, bin seiner Lektüre literarischer Wolkenbildung gefolgt und war mit ihm zusammen als Alumnus der Freien Universität aktiv.

Aber wichtiger noch, als dass einen seine Schriften beeinflussten, seine Lehrveranstaltungen und seine hochschulpolitische Diplomatie – das vielleicht Schönste überhaupt, das man von einem akademischen Lehrer sagen kann, ist: dass man seine Haltung und ihn als Menschen bewunderte.

OIiver Lubrich ist Ordinarius für Neuere deutsche Literatur und Komparatistik an der Universität Bern. Er studierte von 1990 bis 1996 an der Freien Universität Berlin, wo er auch promovierte und Juniorpofessor war.

* Die mit Sternchen markierten Beiträge sind erstmals in „Vielfacher Blick. Eberhard Lämmert zum 90. Geburtstag“ (hrsg. von Ralf Schnell, Petra Boden, Justus Fetscher, universi – Universitätsverlag Siegen, 2014) erschienen.

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