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Die türkische Regierung unter Recep Tayyip Erdogan macht die Gülen-Bewegung für den Putschversuch verantwortlich.

© imago/Zuma Press

Gülen-Bewegung: Bildung, Business und ein erbitterter Machtkampf

Die Ethnologin Kristina Dohrn von der Freien Universität Berlin forscht seit zehn Jahren zur Gülen-Bewegung – Deutschland könnte sich ihrer Ansicht nach zu deren neuem Zentrum entwickeln.

Es ist nicht leicht zu sagen, was die „Gülen-Bewegung“ ist. Sie habe viele Dimensionen, sagt Kristina Dohrn, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie der Freien Universität Berlin. Sie sei eine muslimisch-fromme Bildungsbewegung, die öffentlich für die Ideen des türkischen Predigers Fethullah Gülen für Weltfrieden und Dialog eintrete. Sie sei ein weltweit agierendes Netzwerk aus Wohltätigkeitsorganisationen, Dialogvereinen, Medien, Privatschulen, Universitäten und Unternehmen, deren Einfluss über ein islamisches Umfeld weit hinausgehe. Und schließlich sei sie, vor allem in der Türkei, auch zum politischen Faktor geworden – ihr wird vorgeworfen, den türkischen Staat systematisch zu unterwandern. Von der türkischen Regierung unter Recep Tayyip Erdogan wird sie für den Putschversuch verantwortlich gemacht, bei dem im vergangenen Jahr 300 Menschen starben.

Durch einen jahrelangen Machtkampf mit dem türkischen Präsidenten erheblich geschwächt, doch noch immer in rund 140 Ländern weltweit aktiv, steht das Netzwerk um Fethullah Gülen derzeit vor einem gewaltigen Umbruch: „Deutschland könnte sich zum neuen Zentrum der Bewegung entwickeln“, sagt Kristina Dohrn.

Fethullah Gülen, der in den 1980er Jahren zum einflussreichsten Prediger der Türkei avancierte und seit 1999 in den USA lebt, war einst einer von Erdogans wichtigsten Verbündeten. „Die Gülen-Bewegung spielte eine zentrale Rolle im Machtkampf zwischen neuen muslimisch-konservativen und alten kemalistischen Eliten“, sagt Dohrn. „Gemeinsam vertraten sie eine neue gesellschaftliche Elite, in der muslimische Frömmigkeit, Nationalismus, sozialer Konservatismus und globaler wirtschaftlicher Einfluss zusammenkamen.“

Die Gülen-Bewegung ist in der Bildung weltweit aktiv

Gülen-Anhänger hatten einflussreiche Positionen in Verwaltung und Justiz inne. Bereitwillig unterstützten sie Erdogan dabei, den kemalistischen Staatsapparat zu entmachten. In zahlreichen Schauprozessen, in denen Hunderte Offiziere, Journalisten und Intellektuelle unschuldig zu Gefängnisstrafen verurteilt worden sind, sind nach Recherchen vieler türkischer und deutscher Journalisten Gülen nahestehende Richter federführend gewesen.

Gleichzeitig expandierte die Gülen-Bewegung global, insbesondere im Bildungsbereich. Schulen entstanden in mehr als 160 Ländern. „In manchen afrikanischen Ländern gab es Gülen-Schulen, bevor es eine türkische Botschaft gab“, sagt Kristina Dohrn, die selbst mehr als ein Jahr an einer solchen Schule in Tansania geforscht hat. „Sie waren die Türöffner für wirtschaftliche und politische Verbindungen mit der Türkei.“ Die Schulen seien meist sehr gut ausgestattet und genössen einen exzellenten Ruf. Ein von Gülen inspirierter Islam stehe dort nicht auf dem Lehrplan, und einige Schülerinnen und Schüler – darunter auch Kinder von Ministern – verließen die Schule, ohne je etwas von Fethullah Gülen gehört zu haben. Im Nachmittagsunterricht würden jedoch durchaus Gülens Texte gelesen, sagt die Wissenschaftlerin.

„Die türkische Außenpolitik und das Engagement der Gülen-Bewegung gingen in afrikanischen Ländern oft Hand in Hand“, sagt Dohrn. Die AKP-Regierung und die Gülen-Bewegung hätten gemeinsam ihren Einfluss erweitern können. „Und muslimische Unternehmer aus der Türkei konnten auf ganz neue Märkte expandieren“, sagt Dohrn. „Im Gegenzug unterstützten sie die Bewegung finanziell.“

Erdogan ließ bereits in vielen Ländern Schulen schließen

Um das Jahr 2013 herum entzweiten sich Gülen und Erdogan. Rund drei Jahre tobte ein wilder Machtkampf in der Türkei – den Erdogan schließlich für sich entschied. War der Putschversuch 2016 ein letztes Aufbäumen der Gülen-Bewegung? Bislang ist dieser Teil der türkischen Geschichte noch nicht aufgearbeitet. Doch auch ohne handfeste Beweise griff Erdogan hart durch. Medienberichten zufolge seien ohne rechtstaatliche Verfahren rund 140 000 Beamte entlassen worden, die im Verdacht stehen, Anhänger des Predigers zu sein, 50 000 Menschen seien verhaftet worden. „Unternehmen wurden und werden zerschlagen, Konten eingefroren, Familien enteignet und Existenzen zerstört“, sagt Dohrn. „Es ist eine regelrechte Hetzjagd.“

Nun setze sich der Machtkampf weltweit fort. Die türkische Regierung nutze ihren Einfluss auch im Ausland, um außerhalb der Türkei gegen das Netzwerk vorzugehen. In vielen Ländern Afrikas, etwa Niger, Marokko oder Senegal, seien auf Druck Erdogans bereits Schulen geschlossen worden.

An dieser Stelle komme Deutschland ins Spiel, sagt die Ethnologin: „Nach dem Putschversuch sind viele Menschen, auch solche mit zentralen Rollen in der Bewegung, nach Deutschland geflohen. Man hofft, sich hier Erdogans langem Arm entziehen zu können.“ Um der Schließung von Gülen-Schulen im Ausland zuvorzukommen, versuchten nun Gülen nahestehende deutsch-türkische Unternehmer in Deutschland, diese aufzukaufen. Es wären dann offiziell deutsche Schulen – und der diplomatische Druck der Türkei liefe ins Leere. Ein Zeichen dafür, sagt Kristina Dohrn, wie dynamisch die Bewegung sei. Und immer bereit, sich an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen.

Dennis Yücel

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