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Hannah Arendt: Vom Studium der Philosophie, Theologie und Gräzistik zur politischen Theorie.

© Deutsches Historisches Museum / Art Resource, New York, Hannah Arendt Bluecher Literary Trust

Hannah Arendt neu entdecken: Denken ohne Geländer

Hannah Arendt war eine der wichtigsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. An der Freien Universität Berlin kommt die erste kritische Gesamtausgabe ihrer Schriften heraus.

Die Texte der Philosophin Hannah Arendt erleben aktuell eine Renaissance. Ein Beleg dafür ist der Wiedereinzug von Hannah Arendts Standardwerk „The Origins of Totalitarianism“, deutsch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, in die Bestsellerlisten der USA, als Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde. 

Auch andere Verschiebungen und Erosionen in der westlichen Welt erinnern an Ereignisse, die Hannah Arendt selbst miterlebt und in ihrem Schaffen untersucht und kommentiert hat. 

Schließlich hat die Philosophin den Verfall der Weimarer Republik beobachtet und musste nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten wegen ihrer jüdischen Herkunft in die USA fliehen. Ihre Werke beleuchten die Gründe für Faschismus und totalitäre Gewalt, die Konsequenzen der Fluchterfahrung, den Verfall zivilisatorischer Werte und die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge in der Politik. 

Das Deutsche Historische Museum in Berlin widmet ihr bis zum 18. Oktober eine Ausstellung mit dem Titel „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“.

Bislang gab es keine gesicherten Editionen

„In den USA gehört das Werk von Hannah Arendt schon seit Jahrzehnten zum Standardrepertoire der Geisteswissenschaften“, sagt Barbara Hahn, Honorarprofessorin an der Freien Universität Berlin und Professorin an der amerikanischen Vanderbilt University in Nashville, Tennessee. 

„In Deutschland wird Hannah Arendt derzeit neu entdeckt. Das Problem ist, dass es bislang keine gesicherten Editionen gab.“ Das will die Literaturwissenschaftlerin ändern. 

Gemeinsam mit einem internationalen Forschungsteam hat Barbara Hahn die erste kritische Gesamtausgabe der Werke von Hannah Arendt in die Wege geleitet, um eine genaue Rezeption über Ländergrenzen hinweg zu ermöglichen. 

Neben Barbara Hahn sind Hauptherausgeber Anne Eusterschulte (Philosophie, Freie Universität Berlin), Eva Geulen (Direktorin des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin), Hermann Kappelhoff (Film- und Medienwissenschaft, Freie Universität Berlin), Patchen Markell (Politische Theorie, Cornell University, New York), Annette Vowinckel (Geschichtswissenschaft, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam) und Thomas Wild (Literaturwissenschaft, Bard College, New York).

Die neue Ausgabe erscheint in zwei Sprachen

Mittlerweile sind zwei Bände publiziert. 15 weitere sollen folgen. Neben der Printausgabe ist eine Online-Ausgabe geplant, die den interessierten Leserinnen und Lesern frei zugänglich sein soll. 

„In unserer Ausgabe kann man schichtweise nachvollziehen, wie Hannah Arendt gedacht hat, auf welche Literatur sie sich bezogen hat und wie ihre Texte entstanden sind“, sagt Christian Pischel, Projektkoordinator von der Freien Universität. 

Ihn begeistert vor allem die Idee, dass die Ausgabe in zwei Sprachen publiziert wird: auf Englisch und auf Deutsch. Denn Hannah Arendt hat in beiden Sprachen geschrieben und gedacht. 

„Viele Texte liegen in beiden Sprachen vor und unterscheiden sich inhaltlich. Dies wollen wir kenntlich machen und eine kritische Rezeption ermöglichen“, sagt Christian Pischel. Man könne sich bald die Textentstehungen interaktiv anschauen und den Entstehungsprozess besser begreifen. 

Für Hannah Arendt war Fluchterfahrung prägend

Hannah Arendts bewegte Biografie ist Grundlage ihrer bilingualen Spracherfahrung. Die Entrechtung und Verfolgung von Juden in der Zeit des Nationalsozialismus sowie Hannah Arendts eigene Inhaftierung durch die Gestapo im Juli 1933 bewogen die 1906 geborene Intellektuelle zur Emigration aus Deutschland – über Karlsbad und Genf gelangte sie nach Paris. 1941 floh sie schließlich nach New York, wo sie eine neue Heimat fand. 

Nachdem sie vom nationalsozialistischen Regime 1937 ausgebürgert worden war, war sie staatenlos, bis sie 1951 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt. Seitdem verstand sie sich als US-Amerikanerin und bekannte sich zur US-amerikanischen Verfassung. 

Hannah Arendt war unter anderem als Publizistin sowie Hochschullehrerin tätig und veröffentlichte wichtige Beiträge zur politischen Philosophie. Gleichwohl lehnte sie den Begriff „Philosophin“ für sich ab und bevorzugte für ihr Werk die Bezeichnung „Politische Theorie“.

Hannah Arendt wandelte zwischen den Welten

Ganz entscheidend sei, sagt Christian Pischel, dass Hannah Arendt trotz ihrer Gewalterfahrung das kontinentale Denken nie aufgegeben hat – auch nicht nach der Flucht in die USA. „Sie war eine Intellektuelle, die zwischen den Welten wandelte und zeitlebens in beiden Sprachen die Welt betrachtet und verstanden hat.“ 

Sie sprach das deutsche und das amerikanische Publikum gleichermaßen an. Es war ein permanentes Wechseln zwischen den Sprachen. Nach dem Krieg besuchte sie Deutschland und nahm wieder Kontakt zu ihren Lehrern auf, darunter Karl Jaspers und Martin Heidegger.

Hannah Arendts Lehrer ihrer frühen Studienzeit in Marburg, der Philosoph Heidegger, war 1933 Rektor der Universität Freiburg und als NSDAP-Mitglied in das nationalsozialistische Regime eingebunden. Auch die Gründe für solche Einlassungen wollte Hannah Arendt in ihrem intellektuellen Schaffen verstehen. 

Einen ersten Höhepunkt der Rezeption erfuhr sie, als sie den Bericht „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ verfasst hatte; sie hatte 1961 als Prozessbeobachterin an dem vor dem Bezirksgericht Jerusalem geführten Gerichtsverfahren gegen den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann teilgenommen. 

Auch dieser in mehreren Auflagen veränderte Text wird 2023 in einer kritischen Edition zur Verfügung stehen.

Zurzeit liegen zwei Bände der Kritischen Gesamtausgabe vor: „The Modern Challenge to Tradition: Fragmente eines Buchs“ und „Sechs Essays. Die verborgene Tradition“. 

Zwei Bände sind bereis erschienen

Im Herbst soll der dritte Band „Rahel Varnhagen“ erscheinen, in dem sich Hannah Arendt mit der großen Briefschreiberin der Romantik beschäftigt. Den Anfang der Editionsarbeit hat die Hamburger Stiftung zur Förderung für Wissenschaft und Kultur finanziert, außerdem wurde das Projekt von der Vanderbilt University gefördert. 

Später ist die Freie Universität Berlin dazu gestoßen. Anfang des Jahres 2020 wurde das Projekt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft in die Langzeitförderung aufgenommen. Somit ist die Finanzierung der weiteren Bände vorerst gesichert.

[Infos im Internet gibt es unter: hannah-arendt-edition.net]

„Hannah Arendt ist davon ausgegangen, dass man die Welt aus der Perspektive einer Sprache nicht versteht. Dass man immer versuchen muss, die Welt mehrsprachig zu betrachten. Das ist ein ganz wichtiger Gedanke“, sagt Barbara Hahn. 

Ein weiterer Band, der im kommenden Jahr erscheinen wird, heißt „The Life of the Mind“. Dieser wird mit einer Fassung allein auf Englisch eine Ausnahme bilden. 

„Hannah Arendt starb, im Dezember 1975, bevor sie dieses Buch fertigstellen konnte“, sagt die Literaturwissenschaftlerin. „Sonst hätte sie wohl noch eine deutsche Fassung geschrieben.

Leonard Fischl

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