zum Hauptinhalt
Ein neues Forschungskolleg in São Paulo soll das Zusammenleben von kulturell, religiös, politisch und ökonomisch ungleichen Menschen erforschen.

© Nora Jacobs

Kulturelle Vielfalt: Von Lateinamerika lernen, heißt zusammenleben lernen

Die Freie Universität und sechs Partner begründen ein vom Forschungsministerium hoch dotiertes Forschungskolleg in São Paulo.

Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft wird in Deutschland derzeit oft als Herausforderung, gar als Problem diskutiert. Dabei ist ein gesellschaftliches Miteinander in kultureller, religiöser und ethnischer Vielfalt in vielen Teilen der Welt eher die Norm als die Ausnahme. Lateinamerika etwa ist seit mehr als 500 Jahren – seit der Landung europäischer Kolonisten und verstärkt seit der Verbringung versklavter Menschen aus Afrika – durch ein Neben- und Miteinander der Differenzen geprägt.

Diese vielschichtige Historie und Gegenwart des Zusammenlebens soll nun ein Forschungskolleg unter Leitung der Freien Universität zusammen mit zwei deutschen und vier lateinamerikanischen Partnerinstitutionen untersuchen. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) als eines von fünf Maria-Sibylla-Merian-Centres gefördert, und ist Teil eines Programms, mit dem das BMBF die Internationalisierung der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften und die gleichberechtigte Zusammenarbeit deutscher mit wissenschaftlichen Institutionen des globalen Südens unterstützt.

Namensgeberin ist Maria Sibylla Merian, eine Frankfurter Naturforscherin, Lateinamerikareisende und kunstvolle Kupferstecherin des späten 17. Jahrhunderts. Das Forschungskolleg zur „Conviviality“ wird in den ersten drei Jahren vom BMBF mit insgesamt 1,9 Millionen Euro gefördert; bei einer positiven Evaluation schließt sich eine sechs Jahre dauernde Förderphase mit jeweils zwei Millionen Euro pro Jahr an.

Kulturelle Differenzen können den Alltag bereichern

Der Forschungsgegenstand des Kollegs, das bereits ein Koordinationsbüro in São Paulo eingerichtet hat, ist die „Conviviality in Unequal Societies“, was man mit dem Zusammenleben oder dem gesellschaftlichen Miteinander von kulturell, religiös, politisch und ökonomisch Ungleichen übersetzen könnte. Der Projektleiter, Sérgio Costa, Professor für Soziologie am Lateinamerika Institut der Freien Universität, erklärt die Zielsetzung so: „Es geht darum, Forschungsergebnisse zum Zusammenleben in Differenz aus anderen Regionen der Welt und aus Europa auszutauschen.“

Die europäische Diskussion über das Zusammenleben in heterogenen Gesellschaften sei bisher stark fokussiert auf die jüngsten europäischen Erfahrungen, dabei seien andere Weltregionen wie Lateinamerika durch die Kolonisierung schon seit Jahrhunderten mit der Herausforderung des Zusammenlebens in komplexen und vielfältigen Gesellschaften konfrontiert. Natürlich gebe es die Erfahrung kultureller Vielfalt auch in Europa, sagt Costa, aber die Geschichte der Nationalstaaten, welche als kulturell homogen angesehen werden, verdecke diese oft.

In Deutschland etwa, so Costa, würden kulturelle Differenzen oft als etwas durch „Integration“ zu Überwindendes angesehen. Dabei sei doch die Ungleichheit etwas zu Überwindendes, aber nicht die Differenzen an sich. Und auch der Multikulturalismus böte keine Lösung, weil er Differenzen zwar akzeptiere, sie aber gleichzeitig fest- und fortschreibe und somit zementiere. Indes zeigten mehrere Beispiele aus Lateinamerika, dass kulturelle Differenzen, solange sie nicht politisch und kulturessentialistisch instrumentalisiert würden, nicht zu neuen Konflikten, sondern zu einer Bereicherung des Alltags führten.

Die ersten Post-doc-Stipendiatinnen arbeiten bereits in São Paulo

Eine Eröffnungskonferenz, die im Sommer dieses Jahres in Berlin stattfand, hat bereits den ersten Schritt getan und das Forschungsfeld und den Gegenstand der Untersuchung abgesteckt. Seit dem 1. Oktober arbeiten die ersten Post-doc-Stipendiatinnen und -Stipendiaten in den Räumlichkeiten des Kollegs in São Paulo. Dort findet im November 2017 auch die zweite Konferenz des Projekts statt, in der es um die Methoden und Theorien der Untersuchung des Miteinanders in ungleichen Gesellschaften gehen soll.

Sieben Institutionen arbeiten in dem transnationalen Forschungskolleg zusammen. Neben der Freien Universität zwei weitere Partner aus Deutschland: die Universität zu Köln und das Ibero-Amerikanische Institut der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Dazu kommen vier Einrichtungen in Lateinamerika: die Universidade de São Paulo und das Centro Brasileiro de Análise e Planejamento in Brasilien, das Instituto de Investigaciones en Humanidades y Ciencias Sociales in Argentinien und das Colegio de México in Mexiko.

Pepe Egger

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false