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Baumängel ingnoriert: Bei dem schwersten Unglück in der Geschichte der Textil- und Bekleidungsindustrie in Bangladesch starben im April 2013 mehr als 1100 Menschen.

©  rijans/flickr.com

Textilindustrie: Bis auf das letzte Hemd

Forscher untersuchen, wie das Unglück von Rana Plaza die Arbeitsbedingungen in Schwellenländern verbessert hat.

Made in Bangladesh. Das steht in vielen Hosen, Hemden, Kleidern der großen Modeketten, eingenäht auf kleinen Zetteln. Die Textil- und Bekleidungsbranche ist in Bangladesch, einem der ärmsten Länder der Welt, seit der Jahrtausendwende der größte Wachstumsmotor. Die meisten westlichen Modekonzerne lassen in diesem Land fertigen. Deutschland ist dabei der zweitgrößte Exportmarkt nach den USA. Rund 4000 Textilfabriken in Bangladesch setzen im Jahr 16 Milliarden Euro um und beschäftigen 3,5 Millionen Menschen. Made in Bangladesh verrät dem Konsumenten zwar das Herkunftsland. Es verrät allerdings nichts darüber, unter welchen Bedingungen die Bekleidungsstücke dort entstanden sind.

Das wurde vielen Menschen erst am 24. April 2013 bewusst. Damals stürzte in Sabhar, rund 25 Kilometer nordwestlich von Dhaka, der Hauptstadt Bangladeschs, eine achtstöckige Textilfabrik ein. Ihr Besitzer, Sohel Rana, hatte das Gebäude illegal um zwei Etagen aufstocken und in den oberen Stockwerken schwere Industriegeneratoren aufstellen lassen. Die zusätzliche Last führte zu Rissen in Wänden und Stützpfeilern und schließlich zum Einsturz. 1127 Menschen starben, 2438 wurden verletzt.

Es war nicht das erste Unglück in Südasien, wo ein Großteil der Mode produziert wird, die in europäischen Geschäften zu kaufen ist. Doch das Unglück von Rana Plaza scheint für Bangladesch und für die Textilindustrie einen Wendepunkt darzustellen. Es steht auch deshalb im Mittelpunkt einer neuen, international und interdisziplinär angelegten Studie, die von der Wirtschaftswissenschaftlerin Elke Schüßler an der Freien Universität Berlin koordiniert wird.

Beteiligt sind 14 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Instituten in Deutschland, Großbritannien, Schweden, Australien und Bangladesch. Gemeinsam wollen sie die globalen Lieferketten der Textilindustrie untersuchen – vom Auftrag gebenden Mode-Label bis zur Näherin in Bangladesch. Erforscht werden soll, inwiefern Unternehmen und Politik auf die Katastrophe reagiert haben. Und wie sich die Produktionsstandards in der globalen Wertschöpfungskette der Bekleidungsindustrie verändern müssen, damit Mode nachhaltig produziert werden kann. Gefördert wird die Studie mit 800 000 Euro aus dem Programm „Europe and Global Challenges“, das von der VolkswagenStiftung, der englischen Stiftung Wellcome Trust und dem Riksbankens Jubileumsfond aus Schweden getragen wird.

Einige Fabriken produzieren für Firmen aus zehn Ländern

Es ist kein einfaches Unterfangen für die Wissenschaftler. Denn auch wenn Begriffe wie „Wertschöpfungskette“ eine gewisse Ordnung suggerierten – die Wirklichkeit in der Textilindustrie sei ungleich komplexer, sagt Elke Schüßler: „In Bangladesch produzieren manche Fabriken für Firmen aus zehn unterschiedlichen Ländern. Jedes Unternehmen hat andere Anforderungen. Das macht es so schwer, die Produktion zu organisieren.“ An jedem Kleidungsstück sind unzählige Lieferanten beteiligt. Wer will da garantieren, dass die Arbeit stets nach den Standards der Auftraggeber erledigt wird?

Außerdem bleibe die Frage, was von den westlichen Produktionsstandards bei den Arbeiterinnen ankomme. Die Wissenschaftler begegnen dem Problem, indem sie möglichst viele Forschungsinstrumente der Soziologie, der Politik- und Wirtschaftswissenschaften an beiden Enden der Wertschöpfungskette anwenden.

Zunächst untersuchen sie, wie sich die weltweiten Rahmenbedingungen seit dem Einsturz von Rana Plaza verändert haben. In Deutschland beispielsweise wurde im Oktober 2014 das „Bündnis für nachhaltige Textilien“ gegründet, ein Zusammenschluss von 140 Firmen, Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und Politikern. Ziel des Bündnisses ist es, gemeinsame Arbeits- und Umweltschutzstandards zu errichten und für transparentere Lieferketten zu sorgen. Ein transnationaler Zusammenschluss von Gewerkschaften mit 190 überwiegend europäischen Textilfirmen unterzeichnete ein Abkommen über Brandschutz und Gebäudesicherheit in Bangladesch. In einer ähnlichen Allianz taten sich 26 überwiegend US-amerikanische Firmen zusammen.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchen auch, welche Haltung westliche Unternehmen einnehmen. „Manche ergreifen die Initiative und verändern Arbeitsabläufe unabhängig davon, ob sie einem dieser Bündnisse beitreten“, sagt Elke Schüßler. „Uns interessiert vor allem, an welchen Standards zur Corporate Social Responsibility (CSR) sich die Unternehmen orientieren und ob sie tatsächlich handeln und etwas an ihrer Lieferantenstruktur verändern.“

Für manche Frauen ist die Arbeit auch ein Akt der Befreiung

In einer Pilotstudie verglich Schüßler zusammen mit zwei australischen Kollegen deutsche und australische Firmen. Die Studie zeigte: Nicht nur der Firmensitz ist ausschlaggebend für die Veränderungsbereitschaft, sondern auch die Größe der Firma und das Marktsegment. Die Teilnehmer für einen erweiterten Vergleich zwischen Deutschland, Australien, Schweden und Großbritannien stehen noch nicht fest. Wünsche hat Elke Schüßler schon: „H&M ist ein großes Unternehmen mit einem professionellen CSR, das wir gerne untersuchen würden.“ Es gebe nur eine Handvoll „richtig großer Player“.

In jedem der vier Länder sollen in 20 Firmen anonym Führungskräfte aus dem Einkauf sowie aus dem CSR-Bereich zu ihren Produktionsstandards und -abläufen befragt werden. Die Wissenschaftler wollen dabei die Mechanismen verstehen, mit denen unterschiedliche Firmen die Veränderung ihrer Prozesse steuern. Darüber hinaus werden Experten von Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften, Verbänden und politischen Institutionen befragt.

Auf der anderen Seite der Wertschöpfungskette, in Bangladesch, untersucht die Studie, welche Auswirkungen die im Westen getroffenen Veränderungen auf die Situation in dem Produktionsland haben und wie sie etwa von dortigen Gewerkschaftlern und Politikern sowie von den Fabrikleitern bewertet werden. Darüber hinaus werden rund 2000 Fabrikarbeiterinnen in ihrem häuslichen Umfeld, wo sie vor dem Druck ihrer Arbeitgeber geschützt sind, zu den Auswirkungen von Rana Plaza auf ihre Arbeitsbedingungen befragt. Schüßler sagt: „In den Textilfabriken arbeiten überwiegend Frauen. Deren Situation ist sehr ambivalent. Für manche ist die Arbeit ein Akt der Befreiung, selbst wenn die Bedingungen schlecht sind. Deswegen wäre es keine Lösung, zu fordern, dass die Bekleidungsfirmen das Land verlassen sollen.“

Einer Lösung für das komplexe Problem will das Forschungs-Team 2018 näher gekommen sein. Die Erkenntnisse, die die Wissenschaftler aus den Reaktionen auf Rana Plaza gewinnen, sollen dann auch auf andere Länder und Branchen übertragen werden. Die Wissenschaftler wollen Empfehlungen aussprechen – und das nicht nur in Fachpublikationen. Sie wollen ihre Ergebnisse direkt an die Praktiker aus Politik und Wirtschaft herantragen. Denn von effektiveren Kontrollen auf den globalisierten Märkten profitieren am Ende alle.

Stefanie Hardick

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